Schaltplan für die Gangschaltung im Rückenmark
Wissenschaftler rekonstruieren Verschaltungsmuster, die Zebrafische mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten schwimmen lassen
Bahnsteigszene: während ein Reisender zum abfahrbereiten Zug sprintet, geht ein anderer mit langsamen Schritten dem Ausgang entgegen. Egal wie schnell die Beteiligten sich fortbewegen, sie setzen abwechselnd einen Fuß vor den anderen. Dazu feuern Nervenzellansammlungen im Rückenmark wechselseitig auf der linken und rechten Seite und rufen so die rhythmischen Muskelkontraktionen in Rumpf, Beinen und Füßen hervor, die unserer Fortbewegung dienen. Wie diese taktgebenden Nervenzellnetzwerke im Rückenmark die Geschwindigkeit steuern, ist jedoch unklar. Auch bei Fischen steuern solche Nervennetzwerke die unterschiedlichen Schwimm-Geschwindigkeiten. Forscher vom Max-Planck-Institut in Martinsried haben nun mit Hilfe einer elektronenmikroskopischen Rekonstruktion von neuronalen Netzwerken untersucht, wie die Gangschaltung im Rückenmark des Zebrafisches verdrahtet ist. Cell Reports, online am 5. Juni 2018
Entlang des Rückenmarks eines Wirbeltieres befinden sich sogenannte Motorneurone. Die Aufgabe dieser Nervenzellen ist es, einem bestimmten Zielmuskel mitzuteilen, wann er sich anspannen soll. Wenn nun die Motorneurone verschiedener Zielmuskeln im richtigen Rhythmus und in der richtigen Reihenfolge feuern, entstehen daraus glatte Bewegungsabläufe, die es ermöglichen, mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten zu schwimmen oder zu laufen. Wenn schnelle und kräftige Fortbewegung gebraucht wird – beispielsweise beim Sprint zum Zug – wird nicht nur die rhythmische Aktivität in den beteiligten Motorneuronen schneller. Es wird auch eine wachsende Anzahl größerer, „schneller“ Motorneuronen aktiv, wodurch sich der Zielmuskel stärker zusammenzieht. Der Taktgeber dieser Aktivitätsmuster wird seit Langem im Netzwerk der Nervenzellen des Rückenmarks vermutet. Wie diese Netzwerke allerdings mit „schnellen“ und „langsamen“ Motorneuronen verbunden sind, ist weitgehend unklar.
Die Wissenschaftler haben nun die Verschaltung zwischen Motorneuronen und wichtigen Klassen von Interneuronen im Rückenmark einer Larve des Zebrafisches rekonstruiert. Dazu wurde zunächst ein dreidimensionaler Datensatz mit Hilfe der von Winfried Denk, Direktor am Max-Planck-Institut für Neurobiologie, entwickelten Serienschnitt-Raster-Elektronenmikroskopie aufgenommen. Die hohe Auflösung erlaubt es, in diesen Daten jede synaptische Verbindung zwischen Nervenzellen innerhalb eines Gewebeblocks zu erkennen. Die Ergebnisse zeigen, dass kleinere (langsamere) Motorneurone meist eher diffus und unspezifisch kontaktiert werden. Dagegen erhalten schnelle Motorneurone zusätzlich hoch-spezifisch Synapsen von Interneuronen, die im Randbereich des Rückenmarks liegen und nur bei sehr schnellen Schwimmbewegungen aktiviert werden. „Das beobachtete Verschaltungsmuster kann erklären, wie die Geschwindigkeit der Fortbewegung über weite Bereiche kontinuierlich reguliert wird“, erklärt Fabian Svara, der Erstautor der Studie. „Die Rekrutierung der größten Motoreinheiten bleibt dagegen sehr schnellen, aber energetisch kostspieligen Fluchtreaktionen vorbehalten.“. Im Gegensatz dazu zeigt ein anderer Interneurontyp, vermutlich verantwortlich für die wechselseitige Hemmung zwischen rechter und linker Seite, wie erwartet keine geschwindigkeitsspezifische Verschaltung.
„Schaltkreismotive, die wir im Modell des Zebrafisches finden, können als Vorlage dienen, um ähnliche Mechanismen auch im Nervensystem von Säugetieren zu identifizieren.“ sagt Johann Bollmann, Koautor und seit Kurzem Heisenberg-Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Der rasche technische Fortschritt unter Verwendung geeigneter Modellsysteme gibt Grund zur Hoffnung, dass die Mechanismen der Bewegungssteuerung umfassend entschlüsselt werden können.
JB/SM