Gehirnregion für Naherkundung
Im Mausgehirn entsteht ein multi-sensorischer Eindruck der nahen Umgebung
Beim Betrachten von Objekten in Reichweite unserer Hände werden spezielle Bereiche im Gehirn aktiv. Das ist bei Mäusen ganz ähnlich. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie haben nun eine Hirnregion der Maus identifiziert, die auf die Wahrnehmung der nahen Umgebung spezialisiert zu sein scheint. Neben den visuellen Eindrücken erhält die Region auch Informationen der Tasthaare. Möglicherweise lernt das junge Gehirn hier, gesehene und ertastete Entfernungen miteinander abzugleichen, und so zum Beispiel die eigene Reichweite einzuschätzen.
Das Gehirn weiß in der Regel, wie groß der Aktionsradius seines Trägers ist. Dabei nutzt es ganz unterschiedliche Methoden, um die relevante Entfernung abzuschätzen. Eine davon ist die Tiefenwahrnehmung durch dreidimensionales Sehen mit zwei Augen. „Kneift man ein Auge zu, wird es deutlich schwerer etwas punktgenau zu greifen“, verdeutlicht der Neurobiologe Mark Hübener. Diese 3D-Tiefenwahrnehmung wird von speziellen Nervenzellen verarbeitet.
Schauen beide Augen auf dieselbe Stelle, ergibt sich aus der Position der Augen ein kleiner Unterschied im Blickwinkel. Auf diesen Unterschied reagieren die 3D-Nervenzellen. Sie helfen dabei dreidimensional zu sehen, Tiefe zu erkennen und daraus Entfernungen zu berechnen. Wie das Gehirn dies jedoch genau macht und Bereiche des Raums in Kategorien wie "erreichbar", "nah" oder "fern" einteilt, ist weitgehend unerforscht.
„Auch das Mausgehirn hat diese 3D-Nervenzellen, wenn auch deutlich weniger als wir, da Mäuse aufgrund ihrer Augenstellung nur in einem kleinen Bereich dreidimensional sehen können“, weiß Hübener. Um die Rolle dieser Nervenzellen beim Wahrnehmen von "Raum" zu erforschen, setzten die Forscher den Tieren 3D-Brillen auf. Dann zeigten sie ihnen sogenannte "Random Dot Stereogramme".
„Manche kennen das Prinzip vielleicht noch aus Büchern wie „Das magische Auge“, die eine Zeit in Mode waren“, vermutet Hübener. „Man starrt eine Weile auf ein Bild mit anscheinend zufälligem Punktmuster, bis sich irgendwann eine dreidimensionale Struktur herausschält. Oder man setzt gleich eine 3D-Brille auf, die die zusammengehörenden Punkte in Verbindung bringt.“
Schauten die Mäuse durch die 3D-Brille, reagierten besonders viele Nervenzellen in einer kleinen, RL genannten Hirnregion auf die nun sichtbaren 3D-Strukturen. Die RL-Region liegt am Rand der visuellen Hirnrinde und ihre Funktion war bislang unklar. In seiner Studie konnte Alessandro La Chioma verschiedene Eigenschaften der ansässigen Nervenzellen identifizieren und die RL-Region als wichtiges Nah-Erkundungsgebiet des Gehirns eingrenzen.
Viele der 3D-Nervenzellen in der RL-Region erhalten ihre Informationen aus dem unteren Bereich des Sichtfeldes. Diese Zellen reagierten bevorzugt auf Objekte im nahen Bereich. „Solch eine Prägung geschieht wahrscheinlich durch Lernen, denn die Erfahrung zeigt, dass sich nahe Objekte meist im unteren Sichtbereich befinden“, erklärt Tobias Bonhoeffer, Koautor der Studie. Um solch einen Zusammenhang lernen zu können, braucht es jedoch Feedback von mehr als einem Sinn.
Die RL-Region erhält jedoch nicht nur Informationen aus dem visuellen Nahbereich – einige Nervenzellen reagieren auch auf Rückmeldungen der Tasthaare. „So könnte die RL-Region eine mit den Augen wahrgenommene Entfernung mit der Information zur Tastreichweite zum Objekt abgleichen“, so Hübener. „Aus diesen Erfahrungen könnte sich das Gehirn dann ein Bild der nahen Umwelt aufbauen, dass sich später dann auch auf weiter entfernte und abstraktere Dinge ausweiten ließe.“