Mitfahrgelegenheit durch die Nervenzelle
Zellkraftwerke nehmen Proteinbaupläne mit, um am Ziel neue Proteine herstellen zu können
„Wenn man auf eine lange Reise geht ist es besser, leicht und smart zu packen“, fasst Angelika Harbauer, Leiterin der Forschungsgruppe Neurometabolismus am Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz, in Gründung (i.G.) das Motto zusammen, nach dem zelluläre Kraftwerke durch die langen Fortsätze von Nervenzellen reisen. Harbauers Forschungsergebnisse zeigen, dass die als Mitochondrien bekannten Zellkraftwerke auf ihren Reisen anstelle eines für sie wichtigen Proteins die zur Herstellung dieses Proteins benötigten Baupläne mitnehmen. Die Ergebnisse wurden im Journal Neuron veröffentlicht und nun im Rahmen eines Feature-Artikels im Journal Autophagy besprochen.
Proteine sind biologische Maschinen und übernehmen verschiedenste Aufgaben in der Zelle. In einem ihrer Forschungsprojekte, begonnen am Boston Children’s Hospital in der Gruppe von Tom Schwarz, untersucht Angelika Harbauer die Herstellung eines dieser Proteine genauer. Das PINK1-Protein kommt in Mitochondrien, den Kraftwerken der Zelle, vor und sorgt dafür, dass defekte Mitochondrien aussortiert und recycelt werden. So wird die Zelle davor bewahrt, durch fehlerhafte Mitochondrien Schaden zu nehmen. Überall dort, wo Mitochondrien sind, wird PINK1 benötigt.
Dies trifft auch auf Mitochondrien in den langen Fortsätzen von Nervenzellen zu, über die diese Zellen miteinander kommunizieren. PINK1 ist jedoch ein kurzlebiges Protein, das eine lange Reise vom Mittelpunkt der Zelle zu den Enden der Zellfortsätze nicht überstehen würde. In Nervenzellen nutzen Mitochondrien daher einen Trick, um immer ausreichend PINK1 bei sich zu haben: sie nehmen statt des fertigen Proteins dessen Bauplan, auch messenger RNA (mRNA) genannt, mit.
„Als ich das erste Mal die Verteilung der Pink1-mRNA in der Zelle unter dem Mikroskop betrachtet habe, sah das Muster fast identisch zu einer Visualisierung der Verteilung der Mitochondrien aus“, erinnert sich Angelika Harbauer. „Das war der erste Hinweis, dass die Pink1-mRNA an die Mitochondrien bindet und vielleicht sogar mit ihnen zusammen transportiert wird.“
Weitere Experimente zeigten, dass tatsächlich eine Bindung und ein Transportprozess stattfinden. Wie Harbauer und ihre Kolleg*innen herausfanden, hängen sich die Pink1-mRNA und viele andere mRNA-Moleküle über ein Nervenzell-spezifisches, RNA-bindendes Protein sowie mittels eines weiteren Hilfsproteins an die Außenseite von Mitochondrien. So gelangen sie an alle Orte in der Zelle, an denen sich auch Mitochondrien aufhalten. Dort können die mRNA-Moleküle dann im Falle eines Mitochondriendefekts vor Ort zur Herstellung des PINK1-Proteins genutzt werden.
Die Bindung der mRNA-Moleküle an die Mitochondrien erfolgt über ein Protein mit dem Namen Synaptojanin 2. Zuvor war über dieses Protein nur bekannt, dass es an der Übertragung von zellulären Signalen beteiligt ist und bevorzugt in Nervenzellen hergestellt wird. Es handelt sich also um einen speziell auf die Bedürfnisse dieser Zellen zugeschnittenen Weg, den Transport von mRNAs durch ihre langen Zellfortsätze zu ermöglichen.
Die Forschungsgruppe von Angelika Harbauer widmet sich nun der Frage, wie der Transportvorgang von Pink1-mRNA durch zelluläre Signalwege reguliert werden kann. „Wir hoffen, durch das Verständnis dieser Signalwege Ansätze für neue Therapien zu finden, die den Transport von mRNAs durch Mitochondrien steigern“, so Harbauer. Dadurch könnten die Überlebenschancen von Nervenzellen erhöht und ein Fortschreiten von Erkrankungen, bei denen beschädigte Mitochondrien zum Absterben von Nervenzellen beitragen, verlangsamt werden.