Wie das Gehirn einer Fruchtfliege Farben verarbeitet
Biologen klären grundlegende Mechanismen des Farbensehens in einem wirbellosen Tier auf
Menschen und viele Tiere unterscheiden unzählige Farbtöne. Doch was sind die neuronalen Grundlagen des Farbensehens? Wie erkennt das Gehirn Farben, und wie nimmt es sie wahr? Diese Fragen beschäftigen seit Langem sowohl die Naturwissenschaften als auch die Philosophie. Der Arbeitsgruppe um den Freiburger Biologieprofessor Dierk Reiff und seinem Mitarbeiter Christopher Schnaitmann ist es in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe von Oliver Griesbeck am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried gelungen, der Antwort in Fruchtfliegen auf die Spur zu kommen: Das Team hat untersucht, wie die frühen Schritte der Farbverarbeitung im Gehirn von Drosophila melanogaster erfolgen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beschreiben einen bei Insekten bisher unbekannten Mechanismus und kommen darüber hinaus zu einer überraschenden Erkenntnis: Obwohl sich das Sehsystem der Insekten und das der Wirbeltiere – einschließlich des Menschen – in Aufbau und Beschaffenheit stark unterscheidet, greifen an der exakt gleichen Stelle im neuronalen Schaltkreis qualitativ gleiche Prinzipien der Informationsverarbeitung. Die Wissenschaftler haben die Studie in der Fachzeitschrift „Cell“ veröffentlicht.
„Für die meisten Menschen sind Fruchtfliegen kleine Plagegeister, doch für uns eignen sich die Tiere ideal um zu verstehen, wie ein biologisches System aus Zellen – also aus Erbsubstanz, Fetten, Zuckern und Proteinen – visuelle Information verarbeitet“, sagt Reiff. Vordergründig betrachtet, scheint der Fall einfach: Licht ist ein hervorragendes Medium, um Informationen über die Umwelt zu übertragen. Für Menschen ist es selbstverständlich, dass Lichtquellen und Objekte Farben besitzen. Farbe jedoch ist keine Eigenschaft des Lichts. Es besitzt physikalische Eigenschaften wie Wellenlänge, Polarisation und Intensität. „Im Gegensatz dazu ist Farbe eine Art Erfindung des Gehirns“, betont der Biologe. Die Fotorezeptoren der Netzhaut wandeln Veränderungen der Lichtintensität in elektrische Signale um. „Dabei sind Fotorezeptoren von Haus aus farbenblinde ‚Quantenzähler‘. Sie können zum Beispiel Photonen mit einer bestimmten Wellenlänge effizient detektieren, aber sie können sie nicht von einer größeren Anzahl an Photonen in einem anderen Wellenlängenbereich unterscheiden.“
Wie erlangt das Gehirn also Informationen über die spektrale Zusammensetzung eines visuellen Reizes? Das Team hat gemeinsam mit Oliver Griesbeck vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried einen in Martinsried neu entwickelten, winzigen Protein-Biosensor in Nervenzellen der Fruchtfliege eingebracht. In Verbindung mit einem innovativen physiologischen Messverfahren haben die Forscherinnen und Forscher Einsichten in die Funktion des peripheren Sehsystems, insbesondere in die Fotorezeptoren, der Insekten gewonnen. Die Wissenschaftler nutzten genetische Methoden, um ausgewählte Eigenschaften von Nervenzellen in bestimmten Zelltypen darzustellen, auszuschalten und nach Bedarf wiederherzustellen. Das Team hat so gezeigt, dass – anders als bei Insekten bisher angenommen – so genannte Gegenfarbenmechanismen bereits in den präsynaptischen Fortsätzen von Fotorezeptoren der Fruchtfliege nachweisbar sind. Mithilfe dieser Mechanismen tätigt das Gehirn eine scheinbar einfache Rechenoperation, die für das Farbensehen grundsätzlich erforderlich ist: Es vergleicht die Signale von Fotorezeptoren, die von verschiedenen Wellenlängen bevorzugt angeregt werden.
Ein Vergleich der aufgedeckten neuronalen Schaltkreismechanismen und biophysikalischen Grundlagen mit Befunden aus der Sehforschung an Wirbeltieren – einschließlich des Menschen – zeigt, dass die ersten Verarbeitungsschritte in den Sehsystemen dieser nur weitläufig verwandten Tiere zu qualitativ gleichen Ergebnissen an der exakt gleichen Stelle im neuronalen Schaltkreis führen. Die an den Gegenfarbenmechanismen beteiligten Moleküle, Proteine und zellulären Mechanismen unterscheiden sich jedoch bei Fliegen und Wirbeltieren grundlegend. „Salopp formuliert, könnte man sagen: Die Hardware ist verschieden, doch im Laufe von mehr als 500 Millionen Jahren hat sich eine Software durchgesetzt, die zu gleichen Ergebnissen führt“, erläutert Reiff. Dies lege nahe, dass unterschiedliche Sehsysteme gleiche Lösungsansätze für gleiche Probleme entwickeln und dass sich diese neuronalen Mechanismen des Farbensehens in beiden Tierstämmen unabhängig entwickelt haben. Die Ergebnisse der Studie tragen dazu bei, die grundlegenden Mechanismen der Informationsverarbeitung im Gehirn besser zu verstehen. Mittelfristig könnte die Arbeit auch zur Entwicklung nachhaltiger Methoden in der Insektenbekämpfung, etwa in der Landwirtschaft, genutzt werden.
Der Text beruht auf einer Pressemitteilung der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg