Übermut tut Meisen selten gut

Erfolg unterschiedlicher Persönlichkeitstypen hängt bei Kohlmeisen von der Populationsdichte ab

10. März 2016

Draufgängerische Kohlmeisen haben schlechtere Überlebenschancen bei hoher Populationsdichte. Das haben Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Ornithologie in Seewiesen und Kollegen der Universität Groningen herausgefunden. Obwohl die Tiere jedoch in der Lage sind, künftige Änderungen der Populationsdichte vorherzusehen, können sie ihre Persönlichkeit kaum ändern, auch wenn dies ihre Überlebenswahrscheinlichkeit verbessern würde: Statt ihr Neugierverhalten zu zügeln, werden die Draufgänger bei zunehmender Populationsdichte sogar noch wagemutiger. Vermutlich aus diesem Grund sorgen schwankende Populationsdichten dafür, dass verschiedene Persönlichkeitstypen nebeneinander existieren.

Das Erkundungs- oder Neugierverhalten eines Individuums wird bei Westeuropäischen Kohlmeisen den Nachkommen vererbt und unterliegt damit wie alle vererbbaren Charakterunterschiede einem natürlichen Selektionsdruck. Neugierige Tiere einer Population sind eher die Mutigeren und Ranghöheren. Man könnte annehmen, dass sie bei zunehmender Konkurrenz einen Wettbewerbsvorteil haben, da sie die knapper werdenden Ressourcen besser verteidigen können. In einer entspannten Konkurrenzsituation wären die Draufgänger hingegen im Nachteil, unter anderem weil sie mehr Energie verbrauchen als ihre scheuen Artgenossen.

Die Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen und der Universität Groningen hatten jedoch eine andere Vermutung: Sie nahmen an, dass neugierige, aggressive Vögel in dichten Populationen benachteiligt sind, weil sie Änderungen in ihrem sozialen Umfeld sowohl schlechter vorhersehen, als auch damit umgehen können.

In ihrer Studie kontrollierten die Wissenschaftler über vier Jahre hinweg 600 Nistkästen in zwölf Gebieten und erfassten so die Dichte innerhalb und zwischen den Populationen. Die Fitness der einzelnen Tiere errechneten sie aus der Überlebenswahrscheinlichkeit und der jährlichen Zahl ihrer Nachkommen. Zur Messung des Neugierverhaltens brachten sie die Tiere für kurze Zeit in einen ihnen unvertrauten „Explorationsraum“. Die Anzahl der Flüge und Hüpfer innerhalb der ersten zwei Minuten nach dem Freilassen diente als Indikator dafür, wie schnell die Vögel den Raum erkunden.

„Der Dichte-Effekt auf die verschiedenen Persönlichkeitstypen war verblüffend stark“, sagt Niels Dingemanse, Forschungsgruppenleiter in Seewiesen. Denn die Überlebenswahrscheinlichkeit der schnellen Erkunder nahm mit zunehmender Dichte ebenso schnell ab, wie die der langsamen Erkunder zunahm. Besonders ausschlaggebend war dabei die Populationsdichte zwischen den Jahren innerhalb eines Untersuchungsgebietes. Der räumliche Aspekt, die Dichte zwischen den verschiedenen Untersuchungsgebieten, hatte hingegen kaum Einfluss.

Vorhersage der Konkurrenz im nächsten Jahr

Die Wissenschaftler haben mit ihrer Studie aber nicht nur untersucht, wie die verschiedenen Persönlichkeitstypen der Dichte-abhängigen Selektion unterliegen. Sie haben auch gemessen, ob ein einzelnes Individuum sein Erkundungsverhalten je nach Veränderung der Populationsdichte anpassen kann. „Unsere Daten zeigen, dass Kohlmeisen je nach Brutdichte verschiedene Verhaltensmerkmale von Jahr zu Jahr ändern, was darauf schließen lässt, dass sie diese Brutdichte vorhersehen können“, sagt Marion Nicolaus, Erstautorin der Studie.

Bereits im Herbst können die Tiere anhand der Verfügbarkeit von Bucheckern abschätzen, wie groß der Konkurrenzkampf um gute Nistplätze im Frühjahr wird: Gibt es viel zu essen, ist die Wahrscheinlichkeit höher, den Winter zu überleben. Anstatt sich aber bei zunehmender Dichte zurückzunehmen, nahm die Geschwindigkeit der Erkundungen unter Draufgängern sogar noch zu. Das könnte den Wissenschaftlern zufolge erklären, warum die Selektion eine Mischung unterschiedlicher Persönlichkeiten in einer Population begünstigt und nicht nur einen, besonders flexiblen Charaktertyp.

Psychologen sagen auch für menschliche Gesellschaften vorher, dass sich soziale, scheue und friedliebende Charaktere in wachsenden Gesellschaften leichter tun, während aggressive, mutige Persönlichkeiten sich in schrumpfenden Gesellschaften besser durchsetzen. „Ob der mögliche Verlust der Vielfalt von Persönlichkeiten die Anpassungsfähigkeit einer Population beeinflusst, ist eine momentan noch unbeantwortete Frage. Die Antwort darauf ist sowohl für die Sozial- als auch Naturwissenschaften interessant“, so Niels Dingemanse.

SSP/HR

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