Wie das Gehirn gesehene Bewegungen erfasst
Forschungsbericht (importiert) 2017 - Max-Planck-Institut für Neurobiologie
Einleitung
Wenn wir gehen, rennen oder ein Auto fahren, bewegt sich auf unserer Netzhaut ein Bild der Umwelt relativ zur eigenen Bewegung. Dieses fließende Bewegungsmuster über einem großen Bereich des Sehfeldes wird optischer Fluss genannt. Er liefert dem Gehirn eine visuelle Rückmeldung, aus der das Gehirn die Eigenbewegung berechnen kann. Ohne die Rückmeldung des optischen Flusses wäre eine zielgerichtete Bewegung, wie zum Beispiel Laufen, nur schwer durchzuführen. Andersherum führt ein künstlich erzeugter optischer Fluss – wie zum Beispiel bei einem 3D-Kinofilm – zu einer Illusion der Eigenbewegung. In vielen Tieren wie auch beim Menschen erzeugt der optische Fluss nicht nur das Gefühl der Eigenbewegung, sondern löst auch ausgleichende Bewegungen der Augen oder des Körpers aus. Auf diese Weise hilft er zum Beispiel er, eine Bewegung des eigenen Körpers zu kompensieren und den Blick oder die Körperposition konstant zu halten. Wie werden jedoch die entsprechenden Berechnungen vom Gehirn durchgeführt?
Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie in Martinsried untersuchen diese Frage mit Hilfe von Zebrafischlarven. Die Tiere dienen als Wirbeltier-Modellsystem: Zebrafische ermöglichen den optischen und genetischen Zugang zu ihren kleinen, durchsichtigen Gehirnen und zeigen auch ein robustes und gut beschriebenes Verhalten in Reaktion auf optischen Fluss [1, 2].
Unterschiedliche Muster des optischen Flusses lösen unterschiedliche Verhaltensweisen aus
Optischer Fluss entlang der horizontalen Ebene lässt sich generell in zwei Muster unterteilen: Zum einen gibt es die Rotation, also eine Bewegung im oder gegen den Uhrzeigersinn, wie sie zum Beispiel auf einem Drehstuhl entsteht, zum anderen die Translation, also die Vorwärts- oder Rückwärtsbewegung entlang einer geraden Linie, wie zum Beispiel beim Radfahren (Abb. 1). In Fischen lösen diese beiden optischen Fluss-Muster unterschiedliche Verhaltensweisen aus und müssen daher getrennt voneinander betrachtet werden. So löst ein rotierender optischer Fluss eine charakteristische Augenbewegung aus, die sogenannte optokinetische Reaktion (OKR), bei der die Augen rotieren, um der wahrgenommenen Bewegung zu folgen. Ein translationaler optischer Fluss löst dagegen eine Schwimmbewegung aus: indem der Fisch in die gleiche Richtung wie die wahrgenommene Bewegung schwimmt, kann er seine Position halten, wenn die Strömung ihn abdriften lässt. Dieses Verhalten wird optomotorische Reaktion (OMR) genannt.
Eine Möglichkeit für das Gehirn des Fisches, zwischen rotierendem und translationalem optischen Fluss zu unterscheiden, ist es, die Bewegungsinformationen, die es von beiden Augen erhält, miteinander zu vergleichen. Mit nur dem linken Auge zum Beispiel ist es für den Fisch zum Beispiel schwer, zwischen einer rotierenden Bewegung im Uhrzeigersinn und einer translationalen Vorwärtsbewegung zu unterscheiden, denn in beiden Fällen findet sich ein sehr ähnlicher optischer Fluss in Richtung der Nase. Das rechte Auge nimmt in diesem Beispiel jedoch einen optischen Fluss in Richtung des Ohres für die rotierende Bewegung im Uhrzeigersinn und in Richtung der Nase für die Vorwärtsbewegung wahr. Würden die Informationen zum optischen Fluss der beiden Augen verglichen, wäre das Unterscheiden der beiden Bewegungen für den Fisch also deutlich einfacher. Wie und wo die Berechnungen für diese binokulare Integration, also den Vergleich der Bewegungsinformation beider Augen, im Gehirn stattfinden, war lange kaum verstanden.
Der prätektale Schaltkreis hilft dabei, optische Fluss-Muster zu unterscheiden
Um diese Vorgänge zu verstehen, untersuchten die Wissenschaftler die Aktivität von Nervenzellen im Gehirn von Zebrafischlarven, während sich diese in einer Art Mini-Kino befanden: Die Tiere sahen visuelle Reize, die binokularen optischen Fluss simulierten [3]. Mit Hilfe des Calcium-Imagings, einer optischen Methode, die Nervenzellaktivität unter dem Mikroskop sichtbar macht, konnten die Wissenschaftler währenddessen die Aktivität vieler Nervenzellen in Echtzeit erfassen (Abb. 2). Dabei konzentrierten sie sich auf den als „Prätektum“ bekannten Bereich des visuellen Systems, in den die Nervenzellen des Auges ihre Informationen schicken. In den Experimenten identifizierten und klassifizierten die Forscher systematisch tausende Nervenzellen, die auf verschiedene Muster im optischen Fluss reagierten. Wie erwartet fanden sie Nervenzellen, die auf optischen Fluss in eine Richtung (zur Nase oder zum Ohr) in einem Auge (links oder rechts) reagierten. Sie fanden jedoch auch unbekannte Nervenzelltypen, die sehr viel komplexere Antwortmuster zeigten, als vorhergehende Studien vermuten ließen. Interessanterweise reagierten diese „komplexen“ Zellen zwar auf translationalen, nicht jedoch auf rotierenden optischen Fluss, indem sie die Bewegungsinformationen von linkem und rechtem Auge zusammenführten. Diese binokulare Integration im Prätektum schien daher eine Basis zu sein, um zwischen Rotation und Translation zu unterscheiden.
Basierend auf den Ergebnissen konnten Wissenschaftler Vorhersagen dazu machen, wie die identifizierten Nervenzellen interagieren, um den binokularen optischen Fluss zu berechnen. Der vermutete Schaltplan (Abb. 2 C) zeigt Verbindungen zwischen den verschiedenen Nervenzelltypen und auch über die Mittellinie hinweg zwischen den beiden Hirnhälften.
Ausblick
Obwohl Verhalten wie die optokinetische und optomotorische Reaktion vergleichsweise einfach scheinen, sind an diesen Verhalten bereits deutlich mehr komplexe Nervenzelltypen beteiligt als ursprünglich vermutet. Den Wissenschaftlern ist es nun möglich, die Aufgaben dieser verschiedenen Zelltypen zu testen und den postulierten Schaltplan mit Experimenten zu untermauern. Als einen Ansatz hierfür haben sie transgene Zebrafischlinien erstellt, in denen jeweils verschiedene Bereiche des Gehirns markiert sind [4]. Die neuen transgenen Werkzeuge sind spezifisch genug, um die Aktivität der verschiedenen Nervenzellgruppen separat zu beobachten. So kann ihre Rolle bei der Berechnung des optischen Flusses entschlüsselt werden.