Die Entschlüsselung der Hirnfaltung
Forschungsbericht (importiert) 2017 - Max-Planck-Institut für Neurobiologie
Einleitung
Viele Säugetiere haben eine gefaltete Großhirnrinde. Deren Oberfläche ist im Vergleich zu einem ungefalteten Gehirn um ein Vielfaches größer und erlaubt komplexe geistige Fähigkeiten wie Planen, Assoziieren und Navigieren. Evolutionsbiologen vermuten, dass bereits das vor rund 200 Millionen Jahren lebende Ur-Säugetier ein gefaltetes Gehirn besaß [1]. Erstaunlicherweise haben jedoch einige moderne Säuger die Faltung wieder teilweise oder ganz verloren. So haben Mäuse und Ratten einen komplett glatten Kortex und der von Seekühen und Seidenaffen ist bis auf wenige Furchen glatt. Was zur Ausbildung solch einer glatten Hirnoberfläche führt, ist nicht bekannt. Einen Ansatz gibt das Wanderverhalten junger Nervenzellen: Bei Mäusen wandern diese während der Entwicklung langsam und geordnet zur Großhirnrinde. Dies führt dazu, dass sich die Zellen zu einer gleichmäßigen und glatten Schicht in der Großhirnrinde aufreihen. Dagegen ist das Wanderverhalten in einem Gehirn mit gefaltetem Kortex zu Beginn der Faltenbildung deutlich ungeordneter und turbulenter, was möglicherweise die Faltenbildung begünstigt [2].
Die Maus als Modell für die Hirnfaltung
Der evolutionäre Erfolg der Säugerarten mit glatter Großhirnrinde zeigt, dass ein ungefurchtes Gehirn nicht unbedingt von Nachteil sein muss. Es scheint vielmehr so zu sein, dass die Hirnfaltung für diese Arten keinen Überlebensvorteil darstellte und im Laufe der Evolution wieder verloren ging. Welche Faktoren eine Hirnfaltung begünstigen oder unterbinden, kann durch die bisherigen Erklärungsansätze nicht ausreichend erklärt werden. Die Maus, ein weltweit genutztes Tiermodell mit schier grenzenlosem Potential an genetischen und physiologischen Werkzeugen, ist daher ideal, um diese Faktoren zu untersuchen.
Vorherige Studien zeigten, dass es während der embryonalen Entwicklung gefalteter Gehirne zu einer Vermehrung von Vorläuferzellen kommt. Diese produzieren eine größere Anzahl junger Nervenzellen, die zur Großhirnrinde wandern und dort ein gewisses Gedränge verursachen. Der starre Schädelknochen verhindert, dass sich der Kortex – ähnlich wie ein Hefekuchen im Ofen – einfach ausdehnt. Um den Überschuss an Hirnmasse unterzubringen, muss sich die Großhirnrinde deshalb falten, so die bisherige Erklärung. Studien an Mäusen, in denen die Zahl der Nervenzellen künstlich erhöht wurde, zeigten jedoch, dass dieser Prozess nicht ausreicht, um den Kortex zu falten: Die Tiere hatten zwar eine dickere, ansonsten aber immer noch glatte Hirnrinde [3]. Es musste somit einen Mechanismus geben, der die Faltung des Gehirns in Mäusen verhinderte.
Molekularer Klebstoff sorgt für glatte Mausgehirne
In einer früheren Studie [4] konnten die Max-Planck-Wissenschaftler zeigen, dass bei Mäusen ein Molekül namens FLRT3 (gesprochen: „Flirt-3“) Nervenzellen aneinanderhaften lässt und so eine geordnete Wanderung in den Kortex unterstützt. Wurde das FLRT3 Gen während der Gehirnentwicklung entfernt, änderte sich das Verhalten der Zellen: Es kam zur ungleichmäßigen Verteilung der Zellen durch Gruppenbildung während der Wanderung, die etwas an das ungeordnete Wanderverhalten der Zellen in einem gefalteten Gehirn erinnerte (Abb. 1). Die Vermutung lag daher nahe, dass FLRT3 und verwandte Moleküle eine Rolle bei der unterschiedlichen Zellverteilung in glatten und gefalteten Gehirnen spielen könnte.
Um diese Hypothese zu überprüfen, untersuchten die Forscher Mäuse, deren Vorläuferzellen weder FLRT3 noch das verwandte FLRT1-Molekül besaßen. Diese Tiere entwickelten ein Gehirn, das oftmals deutliche Falten aufwies (Abb. 2), obwohl sich die Zahl der Vorläuferzellen nicht verändert hatte [5].
Eine Kombination aus Laboruntersuchungen und Computersimulationen verdeutlichte, wie die Faltenbildung entstanden war: Durch das Fehlen der FLRT-Moleküle hafteten die Nervenzellen nicht mehr so stark aneinander. Sie konnten sich dadurch freier bewegen und teilweise schneller in die Großhirnrinde einwandern. Auch kam es zur Gruppenbildung und zur ungleichen Zellverteilung in der Großhirnrinde. In den Computersimulationen führte dies zu einer hügeligen Oberfläche des Gehirns. Die Wissenschaftler vermuten, dass das entstehende Gedränge in der obersten Zellschicht den Druck in dieser Schicht erhöhte, der dann durch Furchenbildung aufgelöst wurde.
Wenig FLRT-Klebstoff im menschlichen Gehirn
Mit dieser Studie konnte erstmals gezeigt werden, dass Gruppenbildung und ungleiche Verteilung von wandernden Nervenzellen die Hirnfaltung beeinflusst und dass die FLRT-Moleküle dabei eine maßgebliche Rolle spielen [5]. Aber beeinflusst dieser Mechanismus auch die Entwicklung des menschlichen Gehirns?
Der Vergleich der Menge der FLRT-Moleküle im Kortex des Menschen und der Maus erbrachte Erstaunliches: Zum Zeitpunkt der Wanderung der Nervenzellen produzieren die menschlichen Zellen nur sehr geringe Mengen an FLRT und ähneln daher den FLRT-Mausmutanten. Auch im Kortex von Frettchen, die natürlicherweise ein gefaltetes Gehirn haben, sind die FLRT-Mengen in den Furchen geringer als in den glatten Bereichen. Ein Zusammenhang zwischen der FLRT-Menge und dem Grad der Hirnfaltung von Säugetieren ist somit wahrscheinlich.
Ausblick
Die neuen Erkenntnisse deuten auf ein zweistufiges Modell der Hirnfaltung hin: In einem gefalteten Gehirn werden zunächst mehr Vorläuferzellen und daraus mehr Neuronen gebildet. Diese können sich in der zweiten Stufe durch das Fehlen von molekularen Klebstoffen ungeordnet und frei ausbreiten, was zur Faltenbildung führt. Die FLRT-Mäuse ermöglichen nun das Testen dieser Hypothese: Wird die Nervenzellenzahl in diesen Mäusen künstlich erhöht, sollte sich der Kortex falten. Verhaltenstests mit diesen Tieren könnten zeigen, ob die Kortexveränderung auch seine Rechenleistung erhöht. So spektakulär diese Befunde auch sind, die detaillierten Vorgänge der Zellwanderung im Kortex geben sie noch nicht wieder. Weitere Anstrengungen sind nötig, um ein universelles Modell der Hirnfaltung zu erstellen.