Neuronale Netze mithilfe der Zebrafischlarve erforschen
Forschungsbericht (importiert) 2015 - Max-Planck-Institut für Neurobiologie
Eine Hauptfunktion unseres Gehirns ist es, Sinneseindrücke zu verarbeiten, um das optimale Verhalten zu wählen. Die Berechnungen, mit denen das Gehirn Sinneseindrücke und Verhalten verbindet, sind kaum verstanden. Um diese komplexen Vorgänge zu verstehen, untersuchen Wissenschaftler einfachere Modellorganismen. Die transparente Larve des Zebrafisches erlaubt es den Forschern, mit neuesten optischen Methoden dem gesamten Gehirn und selbst einzelnen Nervenzellen bei der Arbeit zuzuschauen. Dies hilft zu verstehen, wie neuronale Netzwerke Sinneseindrücke in Verhalten übersetzen.
Eine der größten Herausforderungen der Neurowissenschaften ist es zu verstehen, wie die Aktivität von Milliarden miteinander verbundener Nervenzellen die Planung und Auswahl passender Verhaltensmuster entsprechend den äußeren Umständen beeinflusst. Bis jetzt haben Wissenschaftler nur ein sehr eingeschränktes Verständnis von der Funktion solcher neuronalen Netzwerke. Dies liegt vor allem daran, dass diese Netzwerke hochkomplex sind und es kaum passende Methoden gibt, um ihre Aktivität präzise in Zeit und Raum zu erfassen. Durch die einzigarten Eigenschaften der Zebrafischlarve können Forscher einige dieser Einschränkungen bewältigen, sodass Nervenzellverbände detailliert erforscht werden können.
Die Larve des Zebrafisches (Abb. 1), ursprünglich als Zebrabärbling bekannt, ist ein zirka vier Millimeter langes Wirbeltier. Sie besitzt rund 100.000 Nervenzellen. Im Vergleich zum menschlichen Gehirn hat die Larve gut eine Million Mal weniger Nervenzellen. Sie kann jedoch damit immer noch komplexe Verhaltensmuster abrufen. Der größte Vorteil für die Forschung ist jedoch, dass die Larve durchsichtig ist. Dieser entscheidende Vorteil ermöglicht es, das komplette Gehirn mit einer Einzelzellauflösung zu beobachten. Das Beste ist, dass alles am wachen und sich verhaltenden Tier beobachtet werden kann und keine invasiven Arbeiten nötig sind. Mit Hilfe der neuesten bildgebenden Verfahren können die Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Neurobiologie so gewisse Aktivitätsmuster der Nervenzellen mit spezifischen Sinneseindrücken und Verhaltensmustern korrelieren. Ein essenzieller Schritt, um zu verstehen, wie das eine ins andere übersetzt wird.
Visuell gesteuerte Verhaltensmuster
Zebrafischlarven können spezifische Verhaltensmuster abrufen, wenn sie mit verschiedenen Klassen von visuellen Reizen konfrontiert werden (Abb. 2). Ein Beispiel für eine solche Klasse ist die optokinetische Reaktion: Mit gezielten Augenbewegungen versucht die Larve den Bewegungen von Objekten im visuellen Feld zu folgen. Auf diese Weise bleibt der Blick der Larve möglichst stabil und die Netzhaut nimmt weniger Bildbewegung wahr. Ein weiteres, stereotypes Verhaltensmuster ist die optomotorische Reaktion. Hier versucht die Zebrafischlarve in die Richtung der wahrgenommenen Bewegung des kompletten Sichtfeldes zu schwimmen. Im Labor kann dieses Verhalten nachgestellt werden, indem der Larve von unten schwarz-weiße Balken gezeigt werden, die sich von ihr weg bewegen. Dies gaukelt der Larve vor, dass sie durch den Strom des Wassers weggerissen wird. Durch Schwimmen versucht sie, die wahrgenommene Umwelt zu stabilisieren.
Dieses Verhaltensmuster können die Neurobiologen auch dynamisch regeln: Sie fixieren den Kopf der Larve temporär in einem Gel. Der Schwanz ist dabei frei und kann sich bewegen. Die Forscher nehmen dann die Schwanzbewegungen durch eine Hochgeschwindigkeitskamera auf und analysieren die spezifischen Schwimmcharakteristiken. Durch das Modulieren der Geschwindigkeit der schwarz-weißen Balken kann eine geschlossene, künstliche Realität gestaltet werden, in der beispielsweise die Geschwindigkeit der Balken von den Bewegungen der Larve abhängt: Je schneller oder stärker die Larve schwimmt, desto langsamer bewegen sich die Balken. Mit diesem Trick wird der Larve vorgegaukelt, dass sie sich frei bewegen kann. Mit Hilfe dieses Versuchsaufbaus können die Martinsrieder Forscher auch die Regeln ändern, nach denen die virtuelle Realität funktioniert. Beispielsweise können sie die Larve künstlich stärker oder schwächer machen, je nachdem ob die Geschwindigkeit der Balken schneller oder stärker programmiert wird. Die Larve versucht daraufhin ihr Verhalten an die neuen Regeln anzupassen. Erscheint die Larve zum Beispiel schwächer, versucht sie länger und stärker zu schwimmen um an Ort und Stelle zu bleiben. Diese einfachen aber sehr präzisen Manipulationen können Hinweise darauf geben, wie die Larve lernt, eine alte Erwartungshaltung durch eine neue zu ersetzen und sich den neuen Gegebenheiten anzupassen.
Funktionelle Bildgebung von neuronalen Netzwerken
Mit Hilfe der im Martinsrieder Labor etablierten Verhaltensmuster können die Wissenschaftler die Aktivität involvierter Nervenzellen aufnehmen. Diese werden dann mit spezifischen Parametern korreliert, die Eigenschaften von Sinneseindrücken oder Bewegungsabläufen darstellen. Die Aktivität der Nervenzellen kann anhand von transgenen Tieren erforscht werden, die in bestimmten Nervenzellen einen genetisch-codierten Kalziumsensor exprimieren. Potenziell ist es sogar möglich, diesen Sensor in alle Nervenzellen des Gehirns zu bringen. Diese Sensoren erlauben es, die Nervenzellaktivität live zu beobachten: Sie fluoreszieren unterschiedlich stark, je nachdem, wieviel Kalzium in der Nervenzelle vorhanden ist. Ist eine Zelle aktiv, ist die Kalziumkonzentration in der Zelle hoch, der Sensor fluoresziert stark und die Zelle ist hell. Damit können die Forscher erkennen, welche Nervenzellen welche Eigenschaften eines Sinneseindruckes verarbeiten. Beispielsweise können sie auf diese Weise erkennen, welche Nervenzellen die Geschwindigkeit der schwarz-weißen Balken codieren bzw. verarbeiten. Interessant ist dabei natürlich auch, wie sich die Aktivität dieser Nervenzellen verändert, wenn sich die Geschwindigkeit ändert. Es wäre möglich, dass die Geschwindigkeit von einer gewissen Anzahl an Nervenzellen codiert wird. Diese würden aktiver, wenn sich die Geschwindigkeit erhöht. Eine alternative Hypothese wäre, dass Geschwindigkeit durch die Anzahl aktiver Nervenzellen codiert ist: Je höher die Geschwindigkeit, desto mehr Nervenzellen sind aktiv.
Am Modell des Zebrafisches können die Wissenschaftler verfolgen, wie diese Codierung auf Sinnesebene die Bewegungsabläufe beeinflusst, indem sie die Aktivität der Nervenzellen mit dem resultierenden Schwimmverhalten korrelieren. So können sie untersuchen, welche Nervenzellen direkt Muskelzellen kontrollieren und welche die Schwimmgeschwindigkeit der Larve regulieren. Wie oben beschrieben, können die Regeln der virtuellen Realität geändert werden, um neuronale Korrelate der motorischen Anpassung zu finden. Wird die Reaktion des visuellen Stimulus auf das Verhalten der Larve geändert, kann die Larve eventuell die neuen Regeln erlernen und ihre Bewegungen darauf einstellen. Ein Vergleich zwischen den Nervenzellaktivitäten bei verschiedenen Bedingungen kann Hinweise auf die Gehirnregionen geben, die an Lernen und Adaption beteiligt sind. Beispiele hierfür sind das Kleinhirn (Cerebellum) und die untere Olive, eine ovale Struktur im Hirnstamm. Für beide wurde bereits eine funktionelle Rolle in der Adaption bestätigt [1].
Interessanterweise zeigt ein Vergleich von Wiederholungen des gleichen Verhaltensmusters in einigen Fällen, dass es in einem hohen Grad ähnliche Aktivitätsmuster gibt. Beispielsweise erfolgt die zugrundeliegende Nervenzellaktivität der optokinetischen Reaktion in einem stereotypen, geordneten Muster. Auch fanden die Wissenschaftler weitere neuronale Module, die mit Sinneseindrücken und Bewegungssignalen korrelieren (Abb. 3), [2]. Zudem können mithilfe eines Referenzgehirns verschiedene individuelle Larven kartiert werden. So können die Forscher Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen Larven analysieren. Die daraus entstehenden Karten geben detaillierte Einsicht in die funktionelle Anatomie des Gehirns einer Zebrafischlarve. Solche funktionellen Daten können beispielsweise erklären, welcher Anteil des Gehirns bei einer untersuchten Verhaltensweise aktiv ist und welche Aktivitätsmuster sich bei gleichem Stimulus zwischen den Individuen unterscheiden.
Wie sich Änderungen der Nervenzellaktivität auf das Verhalten auswirken
Funktionelle Bildgebung kann Aufschluss darüber geben, welche Gehirnstrukturen mit welchen Sinneseindrücken oder Bewegungsmustern korrelieren. Um jedoch festzustellen, welche Gehirnstrukturen wirklich notwendig und welche für ein gewisses Verhaltensmuster ausreichend sind, ist es zwingend notwendig, die Aktivität des Gehirns zu beeinflussen. Es ist möglich, eine Gehirnstruktur "stummzuschalten" und so ihre Beteiligung an einem Verhalten zu untersuchen: Zeigt die Larve immer noch das gleiche Verhaltensmuster? Dieses „Stummschalten“ kann auf verschiedene Arten erreicht werden. Beispielsweise können die Forscher Nervenzellen mithilfe von Laserlicht aus dem Zellverband herausnehmen. Werden die Nervenzellen, die zur Gruppe der unteren Olive gehören, aus dem Schaltplan entfernt, kann die Larve sich nicht an verschiedene Geschwindigkeiten visueller Stimuli anpassen (im Falle der optomotorischen Reaktion). Die Larve schwimmt immer gleich, egal wie stark sie die Geschwindigkeit kompensiert [1]. Ein weiterer Weg, um die Notwendigkeit einer Gehirnstruktur zu überprüfen, ist ihre direkte Aktivierung. Die Wissenschaftler können die Stärke der Aktivierung in einer Gehirnregion verändern und so überprüfen, wie dies das Verhalten beeinflusst. Solch eine Strategie ermöglichte es ihnen, eine Nervenzellgruppe im Mittelhirn zu identifizieren, die die Geschwindigkeit der Fortbewegung steuert [3].
Zukünftige Schritte
Obwohl die Fortschritte deutlich sind, gibt es noch immer eine Vielzahl an dringenden Fragen: Welche präzisen Stimulus-Eigenschaften verursachen ein bestimmtes Verhalten? Wie können Änderungen in diesen Eigenschaften verschiedene Verhaltensweisen hervorrufen? Was macht das Gehirn, wenn mehrere Sinneseindrücke gegensätzliche Informationen vermitteln? Welche Gehirnstrukturen sind verantwortlich in der Wahl des optimalen Verhaltens und wie ist diese Wahl im Gehirn repräsentiert? Was passiert im Gehirn, wenn ein neues Verhaltensmuster gelernt wurde?
Mit dem breiten Angebot an Geräten, Methoden und etablierten Verhaltensmodellen in der Zebrafischlarve wollen die Martinsrieder Wissenschaftler Schritt für Schritt Antworten auf die genannten Fragen finden. Jede Antwort bringt sie ihrem Langzeitziel näher, besser zu verstehen, wie auch unser Gehirn durch Berechnungen Sinneseindrücke in ein geeignetes Verhalten übersetzt.
Literaturhinweise
Nature 485(7399), 471-477 (2012)