Connectomics: Neue Methoden zur dichten Rekonstruktion neuronaler Schaltkreise

Forschungsbericht (importiert) 2013 - Max-Planck-Institut für Neurobiologie

Autoren
Helmstaedter, Moritz
Abteilungen
Max-Planck-Institut für Neurobiologie, Martinsried
Zusammenfassung

Das Nervensystem zeichnet sich durch eine besonders komplexe Zell-zu-Zell-Interaktion aus. Die Struktur dieses neuronalen Netzwerks zu kartieren ist eine wesentliche Herausforderung der Neurowissenschaften. Das in den letzten Jahren formierte Feld der Connectomics hat sich die Aufgabe gestellt, die dichte Rekonstruktion immer größerer Nervenzellnetzwerke zu ermöglichen. Hierzu dienen automatisierte Volumenelektronenmikroskopie-Techniken. Die größte Hürde ist jedoch die Datenrekonstruktion, für die inzwischen ungewöhnliche Wege über Schwarmintelligenz und Online-Computerspiele verfolgt werden.

Das Gehirn als komplexes Nervenzellnetzwerk

Das menschliche Gehirn ist ein hochkomplexes Organ, das uns die erstaunlichsten Fähigkeiten gibt: andere Menschen zu erkennen, Objekte in der Umwelt zu unterscheiden, gar zu denken und zu fühlen. Unser Gehirn besteht aus rund 85 Milliarden Nervenzellen, die mit jeweils rund 1000 anderen Nervenzellen direkt über synaptische Kontakte kommunizieren. Dieses unglaublich stark verknüpfte Nervenzellnetzwerk ist nach allem, was wir wissen, die biologische Rechenmaschine, welche uns all diese enormen Fähigkeiten verleiht.

Die Vermessung neuronaler Schaltkreise ist daher von jeher ein besonders wichtiges Ziel der Neurowissenschaften gewesen. Schon Ramon y Cajal, spanischer Neuroanatom und 1906 Nobelpreisträger für Physiologie oder Medizin, studierte Nervenzellverzweigungen als Hinweise auf die Kommunikationsrichtung zwischen Nervenzellen. Um Nervenzellschaltkreise zu vermessen, stellt sich die Herausforderung, Synapsen, die Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen, zu identifizieren, und die beteiligten prä- und postsynaptischen Nervenzellfortsätze bis zu ihrem Ursprung – zumeist dem Zellkörper – zurückzuverfolgen (Abb. 1A).

Diese Aufgabe ist dadurch erheblich erschwert, dass Nervengewebe in fast allen Strukturen, jedenfalls im Zentralnervensystem, aus einer extrem dichten Packung von Nervenzellfortsätzen besteht. Das Gewebe ist so dicht, dass die Darstellung des gesamten lokalen Netzwerks in einem größeren Stück Nervengewebe lichtmikroskopisch unmöglich ist (Abb. 1B). Daher war es methodisch von entscheidender Bedeutung, hochselektive Nervenzellfärbungen zu gewinnen, wie sie die von Cajal verwendete Silberfärbemethode vor mehr als 100 Jahren bereits darstellte. Bei dieser Methode wurde allerdings nur ein sehr kleiner Bruchteil der Nervenzellen gefärbt (nur jede zehntausendste bis zu einer millionste Nervenzelle), und so konnten die Verzweigungen einzelner Nervenzellen rekonstruiert und synaptische Verschaltungen vorhergesagt oder nachgewiesen werden.

Um aber Nervenzellnetzwerke dicht zu rekonstruieren, das heißt in einem gegebenen Volumen alle Nervenzellfortsätze und ihre synaptischen Verschaltungen zu kartieren, standen der Neurowissenschaft lange Zeit keine geeigneten Methoden zur Verfügung. Nervenzellfortsätze können sehr schmal werden, bis zu wenigen Dutzend Nanometern Durchmesser – und Nervenzellen erstrecken sich oft über hunderte Mikrometer oder gar mehrere Millimeter. Damit ergibt sich eine räumliche Skala, die sehr hohe Auflösung über große Distanzen verlangt.

Während Elektronenmikroskope solch kleine Strukturen darstellen konnten, war die Aufnahme der benötigten Volumina quasi unmöglich. Einzig die sogenannte Serienschnitt-Transmissionselektronenmikroskopie (ssTEM) erlaubte es Forschern, tausende extrem dünne Gewebeschnitte einzeln abzubilden, und dann manuell zu einem Bildvolumen zusammenzufügen. Lediglich für einen kompletten Schaltkreis wurde dies erfolgreich durchgeführt: die Rekonstruktion des Verschaltungsplans der 302 Nervenzellen im Wurm C. elegans [2], dessen Erstellung 15 Jahre benötigte.

In Anbetracht dieser methodischen Grenzen war es ein erheblicher Durchbruch für die Neurobiologie, als in den letzten zehn Jahren automatisierte Verfahren zur Volumenelektronenmikroskopie entwickelt wurden. Eine der bisher erfolgreichsten dieser Techniken stammt von Winfried Denk am Max-Planck Institut für medizinische Forschung in Heidelberg: die serielle En-bloc-Rasterelektronenmikroskopie (SBEM) [3].

Serielle En-bloc-Rasterelektronenmikroskopie

Anstatt zehntausende dünne Gewebeschnitte anzufertigen, wird bei dieser Technik (Abb. 1C) der gesamte Gewebeblock in die Vakuumkammer des Elektronenmikroskops eingebracht. In der Vakuumkammer ist ein Diamantmesser-Ultramikrotom installiert, das automatisch die Oberfläche des Gewebeblocks abschneiden kann. Es wird nun abwechselnd diese Oberfläche mittels Rasterelektronenmikroskopie abgebildet und dann die bereits dargestellte Oberfläche abgeschabt. Dieses Verfahren hat zwei erhebliche Vorteile: die nacheinander aufgenommenen Bildebenen fügen sich quasi automatisch zu einem 3-dimensionalen Bildvolumen und der Prozess aus Bildaufnahme und Schneidevorgang ist vollautomatisiert. Um relevante Volumina zu vermessen, laufen die Experimente oft mehr als sechs Wochen Tag und Nacht. Selbst dann sind die aufgenommenen Gewebeblöcke noch so klein wie ein Sandkorn.

Datenrekonstruktion

Für die Vermessung von Nervenzellnetzwerken ist die Bildaufnahme allerdings nur der erste Schritt. Die beschriebene Volumen-EM-Technik liefert Bildvolumina, welche nur den Elektronen-Streukontrast repräsentieren. In einem nächsten Schritt muss also aus dem Grauwert-Bildvolumen das Nervenzellnetzwerk noch extrahiert werden.

Die Analyse von EM-Bilddaten wurde jahrzehntelang manuell ausgeführt. Diese Rekonstruktion ist jedoch so langsam, dass auch kleinere Nervenzellnetzwerke hunderttausende bis millionen Arbeitsstunden verschlingen würden. Daher war die Entwicklung effizienter Analyse-Software ein wichtiger Fortschritt für die Connectomics. Die erste Software, welche für die EM-Bilddaten eine Google-Maps-artige Dateninteraktion erlaubte, war das in Heidelberg entwickelte Programm KNOSSOS ([4], [5] als Überblicksartikel). Diese Entwicklungen erreichten eine bis zu 50-fache Steigerung der Rekonstruktionseffizienz [4].

Natürlich werden für die Datenrekonstruktion auch direkt automatische computergestützte Bildverarbeitungsansätze verfolgt. Es zeigte sich jedoch bald, dass die Volumen-EM-Daten des Nervengewebes besonders schwierig für Computer zu rekonstruieren sind. Automatische Algorithmen sind bis heute viel fehleranfälliger als menschliche Annotatoren. Um die gewonnenen, massiven Bilddaten erfolgreich zu rekonstruieren, waren daher mehr als zweihundert Studenten an den Max-Planck-Instituten in Heidelberg und München tätig, deren Ergebnisse im Sinne einer 'Schwarmintelligenz' von Computeralgorithmen zu einem Konsens geführt wurden (Abb. 2).

Erste Erfolge der Connectomics

Die wesentlichen Herausforderungen der Connectomics sind, wie beschrieben, zunächst methodischer Natur. Es konnten aber bereits erste Beispiele für die Erkenntniskraft der Schaltkreisanalysen erbracht werden. In einer Studie wurde die Verschaltung der Richtungserkennung in der Maus-Retina analysiert und die hochselektive Verschaltung der inhibitorischen richtungsselektiven Zellen mit den dann ebenfalls richtungsselektiven Ganglionzellen bewiesen [6].

2013 wurden dann die ersten neuen dichten Rekonstruktionen von Nervenzellnetzwerken publiziert: ein Schaltkreis aus dem visuellen System der Fliege mit ungefähr 8 000 chemischen Synapsen eines US-amerikanischen Teams [8] und ein Schaltkreis aus der Netzhaut der Maus mit rund 200 000 synaptischen Kontakten durch die Max-Planck-Forscher [7], Abbildung 3. In der Netzhaut-Studie wurde ein Gewebeblock von nur 100 Mikrometern Kantenlänge erforscht. Dieser ergab aber bereits ein Viertel Terabyte an Bilddaten. Aus der Verschaltungsmatrix konnten die Max-Planck-Forscher dann unerwartete Erkenntnisse gewinnen: Es wurde ein neuer Zelltyp und dessen Verschaltungen gefunden, der möglicherweise der Helligkeitsanpassung in der Retina dient. Für weitere Nervenzellen konnte eine bereits bekannte Antworteigenschaft aus dem Schaltkreis erklärt werden. Solche Struktur-Funktions-Analysen, in denen die Architektur der neuronalen Netzwerke Vorhersagen oder Erklärungen für funktionelle Eigenschaften der Nervenzellen oder ihrer Ensembles liefern, stellen die große Faszination und Erkenntnismacht der Connectomics dar.

Spielen für die Wissenschaft

Schon für die Rekonstruktion eines kleinen Stücks Retina mussten die Max-Planck-Forscher auf die Mithilfe hunderter Studenten zurückgreifen. Das neue Ziel der Arbeitsgruppe von Moritz Helmstaedter am Max-Planck Institut für Neurobiologie ist nun die Analyse von Schaltkreisen in der Hirnrinde, dem zerebralen Kortex der Maus. In diesem Hirnbereich werden die besonders komplexen Leistungen des Gehirns offensichtlich: die Erkennung der Umwelt, die Umsetzung von Entscheidungen, das Hören, Sehen, Tasten. Ganz neue Herausforderungen stellen sich nun, da die zu vermessenden Schaltkreise nochmals mehr als hundert Mal komplexer werden. Anstatt auf die Hilfe von zehntausenden Studenten zu hoffen, hat die Arbeitsgruppe daher Methoden entwickelt, um die Analyse von Gehirnschaltkreisen in einer Spielumgebung online einer breiten Öffentlichkeit anzubieten. Dieses sogenannte online crowd sourcing ist also der Versuch, die interessierte Öffentlichkeit direkt an der Datenanalyse zu beteiligen. Die Max-Planck-Arbeitsgruppe hat mithilfe von Spieldesignern und einem Programmiererteam den Ansatz verfolgt, die Datenanalyse so einfach und klar zu präsentieren, dass die Spielerinnen und Spieler schon nach wenigen Minuten zur Wissenschaft beitragen können (www.brainflight.org).

Wenn also Spaß und Wissenschaft zusammenkommen, kann sich für die Neurobiologie eine ganz neue Welt der Nervenzellschaltkreis-Analyse eröffnen und das neue Feld der Connectomics wird detaillierte Erkenntnisse zur Informationsverarbeitung im Gehirn ermöglichen.

Dieser Text folgt weitgehend einer Überblicksdarstellung des Autors in Neuroforum [9]. Der Autor dankt Vera Nijveld, M.A., für redaktionelle Unterstützung.

Literaturhinweise

1.
Helmstaedter, M.; Briggman, K. L. et al.
3D structural imaging of the brain with photons and electrons
Current Opinion in Neurobiology 18, 633-641 (2008)
2.
White, J. G.; Southgate, E. et al.
The structure of the nervous system of the nematode Caenorhabditis elegans
Philosophical Transactions of the Royal Society of London. Series B, Biological Sciences 314, 1-340 (1986)
3.
Denk, W.; Horstmann, H.
Serial block-face scanning electron microscopy to reconstruct three-dimensional tissue nanostructure
PLoS Biology 2: e329 (2004)
4.
Helmstaedter, M.; Briggman, K. L. et al.
High-accuracy neurite reconstruction for high-throughput neuroanatomy
Nature Neuroscience 14, 1081-1088 (2011)
5.
Helmstaedter, M.; Mitra, P. P.
Computational methods and challenges for large-scale circuit mapping
Current Opinion in Neurobiology 22, 162-169 (2012)
6.
Briggman, K. L.; Helmstaedter, M. et al.
Wiring specificity in the direction-selectivity circuit of the retina
Nature 471, 183-188 (2011)
7.
Helmstaedter M. et al.
Connectomic reconstruction of the inner plexiform layer in the mouse retina
Nature 500, 168-174 (2013)
8.
Takemura, S. et al.
A visual motion detection circuit suggested by Drosophila connectomics
Nature 500, 175–181 (2013)
9.
Helmstaedter, M.
Connectomics: New methods for the dense reconstruction of neuronal circuits
NEUROFORUM 19, 22-25 (2013)
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