Die zellulären Grundlagen des Lernens

Forschungsbericht (importiert) 2012 - Max-Planck-Institut für Neurobiologie

Autoren
Bonhoeffer, Tobias
Abteilungen
Synapsen – Schaltkreise – Plastizität
Zusammenfassung
In den letzten Jahren gab es große Fortschritte im Verständnis der zellulären und mechanistischen Grundlagen des Lernens. Inzwischen ist mehr oder weniger sicher, dass dabei Veränderungen an den Kontaktstellen zwischen Nervenzellen, den Synapsen, eine große Rolle spielen. Seit kurzem ermöglichen neue Techniken die Beobachtung solcher Veränderungen im lebenden Gehirn. Dabei zeigen sich tatsächlich funktionelle und strukturelle Änderungen. Eine der verbleibenden Herausforderungen ist es nun, diese Veränderungen auch in sich natürlich verhaltenden und lernenden Tieren sichtbar zu machen.

Einleitung

Die Fähigkeit, Information zu speichern und diese auch nach langer Zeit wieder aus dem Gedächtnis abrufen zu können, ist eine der wichtigsten Eigenschaften des Gehirns. Solche Erinnerungen bestimmen nicht nur das gesamte Leben und die Persönlichkeit eines Menschen, ohne sie wäre auch die menschliche Kultur nicht vorstellbar. Aber auch im Tierreich bringt die Fähigkeit, Information zu speichern und diese später wieder abzurufen, unschätzbare Vorteile. Tiere können Futter verstecken und später wiederfinden; sie können sich erinnern, wie in einer bestimmten Situation zu reagieren ist; sie erinnern sich an Verhaltensweisen, die sie von den Eltern gelernt haben, und können durch die Erinnerung auch Freund und Feind unterscheiden. Diese essenziellen Fähigkeiten zeigen, dass Lernen und Gedächtnis fundamental dazu beitragen, das eigene Überleben und damit das Überleben der Art sichern.

Wie wird Information im Gehirn gespeichert?

Seit langem fragen sich Forscher, wo und wie die Speicherung von Information im Gehirn vonstatten geht. Schon seit rund 60 Jahren [1] wird spekuliert, dass die Speicherung dadurch geschieht, dass Synapsen, die Kontaktstellen zwischen Nervenzellen, in ihrer Übertragungsstärke verändert werden. Es dauerte lange, bis gezeigt werden konnte, dass in der Tat im Hippocampus, einer Gehirnstruktur, die maßgeblich an der Speicherung von Information im Gehirn beteiligt ist, Synapsen verändert werden können. Einige Jahre später wurde dann gezeigt, dass sich nicht nur die Stärke der Verbindungen, sondern auch ihre Struktur verändert [2] (Abb. 1). Die diesen Entdeckungen zugrunde liegenden Experimente wurden an Zellkulturen bzw. Gewebeschnitten des Hippocampus durchgeführt. Hier konnten die Wissenschaftler zeigen, dass die beobachteten Veränderungen solange andauern, dass sie im Prinzip zur Informationsspeicherung genutzt werden könnten. Dies war ein großer Fortschritt, denn zum ersten Mal gab es experimentelle Hinweise auf die zellulären Vorgänge, die im Gehirn beim Speichern von Information vonstatten gehen.

Schlüsseltechnologien befördern den Fortschritt

Trotz dieses Erfolgs war es unbefriedigend, bei Experimenten zum Gedächtnis auf Untersuchungen im isolierten Hirngewebe beschränkt zu sein. Die Frage blieb, inwieweit die in Gewebekultur beobachteten Veränderungen tatsächlich auch im intakten Gehirn stattfinden, und vor allem, ob tatsächlich auf diese Weise Information gespeichert wird. Das Ziel der Abteilung Synapsen-Schaltkreise-Plastizität am Max-Planck-Institut für Neurobiologie ist es, diesen Fragen auf den Grund zu gehen. Mit Hilfe neuer Experimente sind die Wissenschaftler heute ein gutes Stück weiter bei dem Verständnis von Lernen und Gedächtnis im intakten Gehirn. Möglich wurden diese neuen Untersuchungen insbesondere durch moderne Technologien, die in den letzten Jahren entwickelt wurden. Eine dieser Schlüsseltechnologien, nicht nur für diese Untersuchungen, sondern für die gesamte moderne Biologie, ist die Ende der achtziger Jahre entwickelte 2-Photonen-Mikroskopie [3]. Mit dieser neuartigen Mikroskopiertechnik kann die Struktur und Funktion des Nervensystems in ungeahntem Detail untersucht werden. Diese Technologie bietet in vielen Fällen eine bessere Auflösung, das heißt feinere Strukturen können erkannt werden. Wichtiger aber ist, dass die Verwendung von infrarotem Licht eine große Eindringtiefe in das Gehirn ermöglicht. Da die Methode besonders gewebeschonend ist, kann sie zudem für lange Zeit im lebenden Gehirn benutzt werden, ohne ihm zu schaden.

Die andere wichtige Schlüsseltechnologie, die die neuen Experimente möglich machte, ist die Entwicklung von genetisch codierten fluoreszierenden Proteinen [4]. Bei dieser Technik wird die Erbsubstanz von einer oder vielen Zellen so verändert, dass die Zellen fluoreszierende Proteine produzieren. Die so markierten Zellen können dann mit einem Fluoreszenzmikroskop sichtbar gemacht werden. Ein Vorteil ist, dass in einzelnen Zellen Fluoreszenzfarbstoffe gezielt „angeschaltet“ werden können. Zudem müssen keine toxischen Farbstoffe von außen in das Gewebe eingebracht werden – die Zellen produzieren die entsprechenden Farbstoffe selbst. Seit neuestem kann nun nicht nur die Struktur der Zellen sichtbar gemacht werden. Es gibt inzwischen genetisch codierte Farbstoffe, die sogar die Aktivität der Zelle darstellen können.

Was Hänschen nicht, lernt Hans nimmermehr – oder doch?

Ausgestattet mit diesen Werkzeugen konnte nun genauer untersucht werden, wie und wo im Gehirn Informationen gespeichert werden. Das Paradigma, das die Wissenschaftler dabei benutzten, entstammt einer Beobachtung, die wahrscheinlich jeder schon einmal selbst gemacht hat und die Ende des 19. Jahrhunderts von Hermann Ebbinghaus als sogenannte „Ersparnis“ des Gedächtnisses formuliert wurde: Die Beobachtung von Ebbinghaus besagte, dass eine früher schon einmal gelernte Information, auch wenn sie in der Zwischenzeit vergessen wurde, wesentlich leichter wieder gelernt werden kann. Geläufige Beispiele sind motorische Fähigkeiten wie Skifahren, Radfahren oder das Lernen einer Fremdsprache. Frühkindliches Lernen, auch wenn die Fähigkeit über Jahrzehnte nicht genutzt wurde, vereinfacht das Wiedererlernen zu einem späteren Zeitpunkt erheblich.

In ihren Experimenten untersuchten die Wissenschaftler das Sehsystem der Maus, um ein ähnliches Phänomen zu etablieren. Junge Mäuse adaptieren, wie alle Säugetiere, ihr Sehsystem an die äußeren Gegebenheiten. Wenn beispielsweise ein Auge für längere Zeit verschlossen ist, dann werden die Verbindungen von diesem Auge in die Sehrinde abgeschwächt oder sogar ganz eliminiert, denn sie liefern ja keine dem Gehirn nützliche Information. Die Verbindungen des offenen Auges werden im Gegenzug verstärkt. Diese Fähigkeit des Sehsystems, sich an die Umwelt anzupassen, ist aber nur in einer frühen Entwicklungsphase so ausgeprägt. In einer erwachsenen Maus erfolgen solche Anpassungen wesentlich langsamer, wenn sie überhaupt geschehen.

Sieht eine Maus einige Wochen nach der Geburt für zirka eine Woche nur auf einem Auge, so führt dies zu Anpassungen im visuellen Teil des Gehirns. Öffnet sich das Auge wieder, werden die Veränderungen wieder rückgängig gemacht. Wie aber reagiert das Gehirn einer erwachsenen Maus, die einmal eine solche Erfahrung gemacht hat, auf nochmaligen Augenverschluss? Es wäre anzunehmen, dass dies keine Konsequenz hat, da das Gehirn einer erwachsenen Maus ausgereift und nur noch bedingt formbar ist. Die Wissenschaftler fanden jedoch heraus, dass die frühe Erfahrung dafür sorgt, dass sich das Gehirn der Maus selbst im Erwachsenenalter wieder an diese Situation anpassen kann [5] (Abb. 2).

Die Beobachtung dieser Veränderungen in der Maus ermöglichte es nun, mit den vorher beschriebenen neuen genetischen und optischen Werkzeugen die Vorgänge auf Ebene einzelner Nervenzellen zu untersuchen. Wie kommt es, dass im Gehirn anscheinend immer eine „Spur“ von einmal Gelerntem bleibt, selbst wenn die Information eigentlich vergessen scheint? In ihren Experimenten untersuchten die Wissenschaftler Mäuse, in denen einzelne Nervenzellen in der Sehrinde so modifiziert waren, dass sie grün leuchteten. Selbst ihre feinsten Verästelungen waren mit einem 2-Photonen-Mikroskop sichtbar. So konnten sie sehen, wie sich die Struktur einzelner Nervenzellen während des Ab- und Aufbaus der Verbindungen sowie beim späteren Wiederauf- und abbau von Verbindungen änderte. Da auch die feinsten Kontaktstellen, die sogenannten dendritischen Dornen (ca. 1/1000-stel Millimeter groß) sichtbar waren, konnten die tatsächlichen Veränderungen im Gehirn bei diesem Vorgang beobachtet werden: Einige der Dornen wurden nach Verschluss eines Auges abgebaut. Gleichzeitig entstanden viele neue Dornen, die durch die neuen Verbindungen zum offenen Auge geschaffen wurden. Das Überraschende und Interessante war, dass nach dem Öffnen des verschlossenen Auges die neu entstandenen Dornen nicht wieder abgebaut wurden, sondern weiterbestanden. Sie wurden zwar kleiner und dünner – und dadurch auch sicher in ihren Übertragungseigenschaften schwächer – aber sie blieben am gleichen Platz bestehen. Wenn nun viele Wochen später wieder das gleiche Auge verschlossen wurde, dann waren es genau diese Dornen, die wieder groß und kräftig wurden und damit solide Kontaktstellen mit den vorgeschalteten Nervenzellen bildeten [6]. Die Tatsache, dass Information im Gehirn gespeichert bleibt,und dass es leichter ist, einmal Erlerntes wieder zu erlernen, hat seinen Ursprung somit in der Beständigkeit dieser Kontakte: Beim Lernen im Gehirn werden neue Kontakte aufgebaut und diese Kontakte werden, selbst wenn das Gelernte lange nicht benutzt wird, nicht vollständig wieder abgebaut. Das Reaktivieren solcher Kontakte sollte wesentlich leichter sein, als ganz neue Kontakte im Gehirn zu etablieren. Diese Experimente zeigten zum ersten Mal, wie auf der Ebene einzelner Nervenzellen erklärt werden kann, dass einmal gelernte Fähigkeiten wesentlich leichter wieder erlernt werden können.

Lernen in virtueller Umgebung

Der nächste Schritt ist es, von der eher künstlichen Situation des „Lernens“ (Anpassen des Gehirns an das Sehen mit einem Auge) zu einer Situation zu kommen, die mehr dem entspricht, was gemeinhin unter Lernen verstanden wird.

Vor einigen Jahren wurde eine Methode entwickelt um die Änderung von Funktion und Struktur des Gehirns im sich verhaltenden Tier zu beobachten [7]. Eine Maus wird auf eine Styroporkugel gesetzt, die freibeweglich auf einem Luftstrom gelagert ist (Abb. 3). Da die Maus dadurch,selbst wenn sie läuft, immer an der gleichen Stelle bleibt, können mit dem 2-Photonen-Mikroskop Bilder des Gehirns aufgenommen werden, in denen strukturelle Veränderungen der Nervenzellen oder deren Aktivität zu sehen sind [8]. Währenddessen blickt die Maus auf einen etwa halbkugelförmig geformten Bildschirm, auf den eine virtuelle Umgebung projiziert wird. Dadurch hat sie, ähnlich wie bei einem Fahrzeug- oder Flugsimulator, das Gefühl sich fortzubewegen. Lernt eine Maus sich in einer solchen virtuellen Umgebung zurechtzufinden, kann untersucht werden, wie sich die Antworteigenschaften und die Struktur ihrer Nervenzellen ändern, wenn die Maus Information im Gehirn speichert. Ebenso kann untersucht werden, unter welchen Umständen diese Information wieder vergessen wird und ob und wie sich dies im Abbau von Verbindungen ausdrückt. Es ist sogar denkbar, solche neuen Verbindungen gezielt wieder zu kappen [9]. Dies sollte dazu führen, dass die Maus die Information, die sie vorher gelernt hatte, wieder vergisst.

Ausblick

Um Gedächtnisvorgänge wirklich in ihrer ganzen Komplexität zu untersuchen, ist es das Ziel, mit miniaturisierten Mikroskopen [10], die direkt auf dem Kopf einer Maus gesetzt werden, Lernen nicht mehr in virtueller, sondern in einer echten Umgebung zu beobachten. Dies und die zuvor beschriebenen Experimente lassen sich nicht direkt und nicht einfach verwirklichen. Dennoch hat die jüngere Geschichte der Neurowissenschaften gezeigt, dass sich oft Experimente, die eher nach Science Fiction klangen, nach erstaunlich kurzer Zeit realisieren ließen. Noch vor zehn Jahren hätte man es sich nicht träumen lassen, dass man im Jahr 2013 in das Gehirn von lebenden Tieren schauen und die funktionelle und strukturelle Veränderung des Gehirngewebes quasi online beobachten kann. Nichtsdestotrotz ist dies heute möglich. Die Wissenschaft hat in den letzten zehn Jahren große Schritte gemacht und das Verständnis der zellulären Mechanismen des Gedächtnisses ist besser denn je. Dies bedeutet natürlich nicht, dass das Geheimnis des Gedächtnisses völlig entschlüsselt wäre. Bei der rasanten technischen Entwicklung ist es heute jedoch durchaus denkbar, dass in wenigen Jahren Mäuse sehr leichte, hochtechnisierte Mikroskope mit sich herumtragen, die es erlauben, einem Tier buchstäblich „beim Denken zuzuschauen“.

Literaturhinweise

1.
Hebb, D. O.
The organization of behavior
(1949)
2.
Engert, F.; Bonhoeffer, T.
Dendritic spine changes associated with hippocampal long-term synaptic plasticity
Nature 399, 66-70 (1999)
3.
Denk, W.; Strickler J. H.; Webb, W. W.
Two-photon laser scanning fluorescence microscopy
Science 248, 73-76 (1990)
4.
Tsien, R. Y.
The green fluorescent protein
Annual Review of Biochemistry 67, 509-544 (1998)
5.
Hofer, S. B.; Mrsic-Flogel, T. D.; Bonhoeffer, T.; Hübener, M.
Prior experience enhances plasticity in adult visual cortex
Nature Neuroscience 9, 127-132 (2006)
6.
Hofer, S. B.; Mrsic-Flogel, T. D.; Bonhoeffer, T.; Hübener, M.
Experience leaves a lasting structural trace in cortical circuits
Nature 457, 313-317 (2009)
7.
Dombeck D. A.; Khabbaz A. N.; Collman F.; Adelman T. L.; Tank D. W.
Imaging large-scale neural activity with cellular resolution in awake, mobile mice
Neuron 56, 43-57 (2007)
8.
Keller, G. B.; Bonhoeffer, T.; Hübener, M.
Sensorimotor mismatch signals in primary visual cortex of the behaving mouse
Neuron 74, 809-815 (2012)
9.
Hübener, M.; Bonhoeffer, T.
Searching for engrams
Neuron 67, 363-371 (2010)
10.
Piyawattanametha, W.; Cocker, E. D.; Burns, L. D.; Barretto, R. P.; Jung, J. C.; Ra, H.; Solgaard, O.; Schnitzer, M. J.
In vivo brain-imaging using a portable 2.9 g two-photon microscope based on a microelectromechanical systems scanning mirror
Optics Letters 34, 2309-2311 (2009)
Zur Redakteursansicht