Wachstumskur für Nervenzellen

Forschungsbericht (importiert) 2008 - Max-Planck-Institut für Neurobiologie

Autoren
Bradke, Frank; Ertürk, Ali; Hellal, Farida; Enes, Joana; Witte, Harald; Neukirchen, Dorothee; Gomis-Rüth, Susana; Wierenga, Corette
Abteilungen
Axonales Wachstum und Regeneration (Bradke) (Dr. Frank Bradke)
MPI für Neurobiologie, Martinsried
Zusammenfassung
Eine Verletzung im Gehirn oder Rückenmark hat meist schlimme Folgen, denn anders als zum Beispiel in Armen und Beinen wachsen durchtrennte Nervenfasern hier nicht nach. Nun konnten die Vorgänge in verletzten Nervenzellen erstmals beobachtet werden. Dabei zeigte sich, dass der Stabilisierung zellinterner Protein-Röhrchen eine wichtige Bedeutung beim Wachsen dieser Zellen zukommt. Die Ergebnisse könnten langfristig auch zu neuen Therapieansätzen führen.

Die Selbstheilungsfähigkeiten des Körpers sind erstaunlich. Ein Schnitt in den Finger zerstört Hautzellen, verletzt Muskeln und Gefäße und durchtrennt die Ausläufer von Nervenzellen. Das ist schmerzhaft, aber nicht weiter tragisch: Nervenzellen (Abb. 1) wachsen nach kurzer Zeit wieder aus, Muskeln und Gefäße werden neu aufgebaut und die Haut schließt sich über dem Schnitt. Auch größere Verletzungen heilen so meist, ohne bedeutende Spuren zu hinterlassen.

Wenn der Körper über diese erstaunlichen Selbstheilungskräfte verfügt, warum setzt er sie dann nicht ein, um seine empfindlichsten Systeme, das Gehirn und das Rückenmark, nach einer Verletzung zu reparieren?

Zwei Zonen der Regeneration

Wie das Beispiel mit dem Schnitt in den Finger zeigt, unterscheiden sich Nervenzellen verschiedener Körperbereiche darin, wie gut sie sich von einer Verletzung wieder erholen. Nervenzellen des Zentralen Nervensystems, also des Gehirns und Rückenmarks, wachsen nach einer Verletzung kaum wieder aus. Dagegen können die Nerven des Peripheren Nervensystems, zum Beispiel in den Armen und Beinen, eine Beschädigung deutlich besser überwinden. Bei Nervenzellen, deren Fortsätze sowohl ins Zentrale als auch ins Periphere Nervensystem reichen, wächst der verletzte Fortsatz im peripheren Bereich nach kurzer Zeit wieder aus – nicht jedoch im zentralen Bereich. Woher kommt dieser Unterschied? Und gibt es eine Möglichkeit, dass auch Nervenzellen des Zentralen Nervensystems wieder auswachsen? Diese Fragen untersuchen die Wissenschaftler der Selbstständigen Nachwuchsgruppe „Axonales Wachstum und Regeneration“ am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried.

Die Antworten sind nicht nur von akademischem Interesse. Schäden von Nervenzellen im Gehirn führen zu vielfältigen, meist permanenten Beeinträchtigungen. Häufige Ursachen für solch ein Zellsterben im Gehirn sind Unfälle mit Kopfverletzungen, Krankheiten wie Multiple Sklerose oder Parkinson, oder auch ein Schlaganfall. Werden Nervenstränge im Rückenmark stark gequetscht oder durchtrennt, so führt dies zu lebenslanger Querschnittslähmung. Je näher zum Hals die Verletzung auftritt, desto ausgedehnter ist die Lähmung. Eine Studie aus den USA hat ermittelt, dass allein in diesem Land jährlich 8000 bis 11000 Rückenmarksverletzungen gefolgt von einer Querschnittslähmung auftreten. Von diesen Patienten sind 47 Prozent an den Beinen und 52 Prozent an Armen und Beinen gelähmt. Oft sind Unfälle die Ursache für eine Rückenmarksverletzung; Querschnittslähmungen treten daher besonders häufig im Alter zwischen 16 bis 30 Jahren auf. Da die Betroffenen eine relativ normale Lebenserwartung haben, erhöht sich ihre Zahl weltweit von Jahr zu Jahr.

Auf das Ende kommt es an

Werden Nervenzellen verletzt, so sind es häufig die langen Verbindungskabel zwischen den Nervenzellen, die Axone, die beschädigt oder durchtrennt werden. Um zu verstehen, warum ein Axon des Zentralen Nervensystems nach einer Verletzung nicht wieder auswächst, nahmen die Martinsrieder Neurobiologen das Schnittende einer verletzten Nervenzelle genauer unter die Lupe. Bei jungen Nervenzellen befindet sich an der Spitze eines auswachsenden Axons ein so genannter Wachstumskegel. Hier befinden sich ganz spezielle Gene und Proteine, die es dem Axon ermöglichen, zwischen Tausenden von Nervenzellen den Weg zur richtigen Partnerzelle zu finden. Außerdem enthält der Wachstumskegel eine große Ansammlung von Mitochondrien, den Kraftwerken der Zellen, und parallel gebündelte Mikrotubuli, um das Auswachsen des Axons überhaupt zu ermöglichen. Mikrotubuli sind winzige Protein-Röhrchen, deren koordiniertes Vorstoßen zur Verlängerung des Axons führt.

Wird ein Axon im Peripheren Nervensystem durchgeschnitten, so bildet sich an seiner Spitze ein Wachstumskegel – ganz wie bei einer jungen Zelle –, und das Axon wächst erneut aus. Auch im Zentralen Nervensystem bildet sich an der verletzten Axonspitze eine Verdickung. Anders als beim Wachstumskegel im peripheren Bereich zeigt diese sogenannte Verkürzungsknolle (Abb. 2) jedoch keinerlei Bestreben zum Weiterwachsen.

Blick in die Verkürzungsknolle

Verkürzungsknollen sind somit ein wichtiger Ansatzpunkt, um die Wachstumsbremse im Zentralen Nervensystem zu verstehen. Jedoch war es lange Zeit nicht möglich, die Bildung von Verkürzungsknollen direkt zu beobachten, da die entsprechenden Methoden fehlten. Durch die großen Fortschritte in der Genetik und die damit verbundene Entwicklung neuer Analysemethoden konnten die Max-Planck-Forscher nun erstmals die Vorgänge in den Verkürzungsknollen genauer untersuchen. Denn mithilfe des grün-fluoreszierenden Proteins (GFP) ist es möglich, einzelne Nervenzellen gezielt zu beobachten. Die Wissenschaftler konnten so die Veränderungen ausgewählter Verkürzungsknollen direkt unter dem Mikroskop verfolgen [1]. Neue Erkenntnisse ließen nicht lange auf sich warten: Es zeigte sich, dass eine Verkürzungsknolle bereits knapp eine Stunde nach einer Verletzung zu erkennen ist. Während das Ende des verletzten Axons somit in den folgenden Stunden langsam anschwillt, sammeln sich im Inneren der Verkürzungsknolle Mitochondrien – ähnlich wie bei einem Wachstumskegel. Mit diesen Kraftwerken vor Ort scheint es eher unwahrscheinlich, dass der Grund für den Wachstumsstopp ein Mangel an Energie ist. Richtig spannend wurde es jedoch, als sich die Neurobiologen den Mikrotubuli zuwandten. Normalerweise sind diese sehr regelmäßig und parallel angeordnet. In den Verkürzungsknollen waren sie jedoch völlig durcheinandergeraten [1], Abbildung 3.

Sind es also die verstreuten Mikrotubuli, die das Weiterwachsen des Axons verhindern? Um dies zu überprüfen, setzten die Wissenschaftler Nocodazole ein. Dieser Wirkstoff wird in der Zellbiologie häufig verwendet, um Mikrotubuli zu destabilisieren. Und tatsächlich: Wurde Nocodazole zu einem Wachstumskegel hinzugegeben, so entstand daraus eine Verkürzungsknolle, und das Axon stellte sein Wachstum ein. Das war ein eindeutiger Hinweis darauf, dass das Durcheinanderbringen der Mikrotubuli in der Verkürzungsknolle eine der Hauptursachen für den Wachstumsstopp des Axons ist. Nach diesem Ergebnis lag die nächste Frage auf der Hand: Was passiert, wenn anstatt Nocodazole ein Mittel eingesetzt wird, das die Mikrotubuli stabilisiert? Für diese Untersuchungen bot sich der Wirkstoff Paclitaxel an. In der Krebstherapie führt die Mikrotubuli-stabilisierende Wirkung von Paclitaxel dazu, dass sich Krebszellen nicht mehr teilen können. Wurde der Wirkstoff nun zu verletzten Nervenzellen des Zentralen Nervensystems gegeben, zeigten sich recht ermutigende Effekte.

Vielversprechende Stabilisierung

Durch Zugabe von Paclitaxel gelang es den Wissenschaftlern, einer jungen Zelle die Entscheidung abzunehmen, welcher ihrer Fortsätze zum Axon wird. Mithilfe des Wirkstoffs konnten die Mikrotubuli jedes beliebigen Fortsatzes stabilisiert werden, wodurch dieser Fortsatz zum Axon auswuchs [2]. Wurde das Mittel im lebenden Organismus nach einer Verletzung direkt in die Axonspitze injiziert, so wurde die Ausbildung der Verkürzungsknolle unterdrückt. Mehr noch: In Versuchen mit Zellkulturen konnten verletzte Nervenzellen des Zentralen Nervensystems mithilfe von Paclitaxel selbst dann wieder auswachsen, wenn zur Umgebung der Nervenzelle wachstumshemmende Substanzen aus dem Zentralen Nervensystem zugegeben wurden.

Das große Potenzial von Paclitaxel zeigte sich auch, als die Wissenschaftler den Wirkstoff zu ausgewachsenen Nervenzellen gaben [3]. Eine „typische“ Nervenzelle besteht aus einem Axon und mehreren Dendriten. Dendriten empfangen Informationen von anderen Nervenzellen, die dann über das Axon an nachgeschaltete Zellen weitergegeben werden. Wird in einer noch wachsenden Nervenzelle das Axon verletzt, kann einer der entstehenden Dendriten zu einem Axon werden. Mit der Stabilisierung der Mikrotubuli durch Paclitaxel konnten die Wissenschaftler auch ausgereifte Dendriten in der Zellkultur dazu bringen, ihre Identität zu ändern. Nach nur fünf Tagen gaben die neu gewachsenen Dendriten-Axone bereits Informationen an andere Nervenzellen weiter.

Erste Schritte

Früher galt es als sicher, dass Verletzungen im erwachsenen Gehirn oder Rückenmark nicht geheilt werden können. Diese Lehrmeinung gerät nun zunehmend ins Wanken. Die neusten Ergebnisse zu den Vorgängen in der Verkürzungsknolle, der Rolle der Mikrotubuli und der Wandlungsfähigkeit auch ausgereifter Zellfortsätze stimmen zuversichtlich.

Die nächsten Schritte sind nun, herauszufinden, ob Paclitaxel auch im lebenden Organismus eine Regeneration der Nervenzellen bewirkt. Außerdem muss eine Methode zur Darreichung und die richtige Dosierung gefunden werden. Denn zu viel Paclitaxel unterdrückt die Dynamik der Mikrotubuli, sodass Axone nicht richtig auswachsen können. Diese Schwierigkeiten müssen zunächst im Labor und dann in klinischen Studien geklärt werden. Langfristig scheint die Mikrotubuli-Stabilisierung ein vielversprechender Ansatz zu sein, um die Regeneration von Axonen im Zentralen Nervensystem zu verbessern. Bis die Medizin jedoch in der Lage sein wird, Querschnittslähmungen zu heilen, werden wohl noch viele Jahre ins Land gehen. Denn nach wie vor ist der Einfluss anderer Faktoren, wie zum Beispiel des Nerven-Narbengewebes, kaum bekannt. Dieses Narbengewebe schützt die Zellen zunächst vor weiteren Verletzungen, doch es bildet auch eine Art Mauer, die das erneute Auswachsen der Zellen behindert. Wie die Bildung des Narbengewebes reduziert werden kann, oder wie die Nervenzellen diese Narbenmauer durchbrechen können, sind einige der Fragen, denen die Martinsrieder Neurobiologen als Nächstes nachgehen wollen.

Originalveröffentlichungen

1.
A. Ertürk, F. Hellal, J. Enes, F. Bradke:
Disorganized microtubules underlie the formation of retraction bulbs and the failure of axonal regeneration.
Journal of Neuroscience 27, 9169-9180 (2007).
2.
H. Witte, D. Neukirchen, F. Bradke:
Microtubule stabilization specifies initial neuronal polarization.
Journal of Cell Biology 180, 619-632 (2008).
3.
S. Gomis-Rüth, C.J. Wierenga, F. Bradke:
Plasticity of polarization: Changing dendrites into axons in neurons integrated in neuronal circuits.
Current Biology 18, 992-1000 (2008).
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