Dem Lernen auf der Spur
Forschungsbericht (importiert) 2008 - Max-Planck-Institut für Neurobiologie
Cogito ergo sum – Ich denke, also bin ich. Dieser Grundsatz des französischen Philosophen René Descartes zeigt, welche zentrale Rolle die Fähigkeit zu denken im menschlichen Bewusstsein einnimmt. Denken, das ist die innerliche Beschäftigung mit Begriffen, Erinnerungen und Vorstellungen; ein Prozess, in den neue Erfahrungen einfließen und aus dessen Gesamtanalyse individuelle Schlussfolgerungen gezogen werden. Dass Denken im Gehirn stattfindet, steht mittlerweile außer Frage. Doch wie speichern die dort ansässigen Nervenzellen eine Erfahrung? Wie ist es möglich, neue Dinge zu lernen? Und wie finden Erinnerungen und neu gelernte Informationen zu einem Gedanken zusammen? Diese Fragen beschäftigen Naturwissenschaftler und Philosophen schon seit langem. Den Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie gelang nun gleich eine ganze Reihe neuer Einblicke in die Funktionsweise des Gehirns.
Flexible Datenverarbeitung
Das menschliche Gehirn besteht aus rund hundert Milliarden Nervenzellen (Abb. 1). Doch das ist erst der Anfang: Jede dieser Zellen ist über viele tausend Kontaktstellen mit ihren Nachbarzellen verbunden. Wissenschaftler gehen davon aus, dass erst der flexible Auf- und Abbau dieser Kontaktstellen es ermöglicht, Informationen zu verarbeiten und zu speichern. Um etwas zu lernen, also neue Informationen verarbeiten zu können, gehen Nervenzellen neue Verbindungen miteinander ein. Steht zum Beispiel eine Information an, für die es noch keinen Verarbeitungsweg gibt, wachsen von der entsprechenden Nervenzelle feine Fortsätze auf ihre Nachbarzellen zu. Bildet sich am Ende des Fortsatzes eine spezielle Kontaktstelle, eine Synapse, ist der Austausch von Informationen zwischen den Zellen möglich – die neue Information wird gelernt. Löst sich der Kontakt wieder auf, wird das Gelernte vergessen. Auch andere Gehirnfunktionen sind nur dann möglich, wenn Nervenzellen zur richtigen Zeit und am richtigen Ort über solche Kontakte Informationen austauschen können.
Leitsystem für Informationen
An den Synapsen fließt die neuronale Information entlang einer Einbahnstraße: von der Sendeeinheit zur Empfangseinheit der nachgeschalteten Zelle. Wissenschaftler können beobachten, wie von nachgeschalteten Zellen aktiv Fortsätze auswachsen oder sich wieder zurückziehen, wenn Informationen verarbeitet werden. Der anscheinend eher statischen Sendeeinheit maßen sie daher nur eine reagierende Rolle beim Aufbau neuer Synapsen zu. Diese Annahme war jedoch falsch, wie die Martinsrieder Neurobiologen nun zeigen konnten [1]. Erstmals gelang es ihnen, nicht nur die Empfänger-Seite, sondern auch die Sendestationen über einen längeren Zeitraum zu beobachten. Hierzu markierten sie einige Nervenzellen mit einem roten Fluoreszenzfarbstoff und färbten die mit ihnen verbundenen Zellen grün. Mithilfe eines hochauflösenden Zwei-Photonen-Mikroskops konnten sie so die Veränderungen beider Synapsenseiten im Zeitraffer beobachten. Schnell war klar, dass die Sendeeinheit einer Synapse eine deutlich aktivere Rolle bei deren Auf- und Abbau spielt als bisher gedacht. Verringert sich der Informationsfluss, den eine Nervenzelle weitergeben muss, so werden viele der nun überflüssigen Sendestationen abgebaut.
Unerwartet war, dass die durchschnittliche Anzahl der Sendestationen gleich blieb. So wurde ihre Anzahl zwar bei einer Verringerung des Informationsflusses reduziert; im gleichen Zeitraum entstanden jedoch an anderen Stellen neue Sendestationen. Da nur die ursprünglich miteinander kommunizierenden Nervenzellen farblich markiert waren, konnten die Wissenschaftler nicht erkennen, ob die neuen Sender Informationen an bisher nicht an der Kommunikation beteiligte Nervenzellen weitergaben. Es könnte sein, dass hier Synapsen zu hemmenden Nervenzellen entstehen, die eine Weitergabe des abgeschwächten Informationsflusses weiter reduzieren. Ob das der Fall ist, wollen die Wissenschaftler nun mit neuen Methoden untersuchen.
Bremsen an vorgegebenen Kreuzungen
Wie erwähnt gibt es neben den Synapsen, die den Informationsfluss zwischen zwei Nervenzellen fördern, auch Synapsen, die die Informationsübertragung hemmen. Hemmende Synapsen stellen rund ein Fünftel aller Kontakte zwischen Nervenzellen. Wie sie entstehen, war bislang jedoch völlig unklar.
Erregende Synapsen befinden sich auf den Dendriten der sendenden Nervenzelle und hier an den Enden der auswachsenden Fortsätze. Hemmende Synapsen sitzen dagegen direkt auf dem „Schaft“ der Dendriten (in Abb. 2 schematisch dargestellt). Solch eine Schaft-Synapse kann entstehen, wenn sich ein Dendrit und das Axon der Empfängerzelle berühren. Bisher nahmen die Wissenschaftler an, dass Nervenzellen auch bei hemmenden Synapsen erst suchende Fortsätze ausschicken, um die beste Stelle für eine Schaft-Synapse zu finden. Diese Annahme wurde nun von Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie widerlegt [2]. Bei ihren Beobachtungen entstanden hemmende Synapsen nur dort, wo bereits ein physischer Kontakt zwischen einem Dendriten und dem Axon einer anderen Nervenzelle bestand.
Diese Ortsbeschränkung auf direkte Kontaktstellen könnte jedoch problematisch sein: Im Gegensatz zu den beweglichen Fortsätzen können weder die Dendriten noch das Axon einer Nervenzelle ihre Position nach vollendeter Gehirnentwicklung ändern. Doch obwohl dies die möglichen Stellen für hemmende Synapsen im erwachsenen Gehirn begrenzt, bleibt auch hier Raum für Flexibilität. Nur an ungefähr 40 Prozent der Überkreuzungen von Dendriten und Axonen fanden die Wissenschaftler eine Synapse. So können je nach Bedarf hemmende Synapsen an noch freien Überkreuzungen aufgebaut werden; der Abbau von nicht mehr benötigten Synapsen macht Überkreuzungen für einen späteren Bedarf wieder frei.
Effiziente Kontaktsuche
Dieser ständige Auf- und Abbau von hemmenden und erregenden Synapsen verschlingt viel Energie. Jedoch könnte der Energieverbrauch noch viel höher sein. Denn für jede erregende Synapse lassen Nervenzellen unzählige kontaktsuchende Fortsätze auf ihre Nachbarzellen zuwachsen. Kommt es zum Zellkontakt, müssen Informationen über den Wert der Verbindung ausgetauscht werden: Passen die Zellen nicht optimal zusammen, wird der Fortsatz nach wenigen Sekunden bis Minuten wieder abgebaut. Bisher nahm man an, dass Nervenzellen Informationen nur über Synapsen austauschen können. Es dauert jedoch bis zu zwei Tagen, bevor eine Synapse funktionstüchtig ist – verschwendete Zeit und Energie, wenn der Kontakt wieder abgebaut wird. Die Entwicklung des Gehirns könnte viele hundert Jahre in Anspruch nehmen, wenn an jedem Zellkontakt erst eine Synapse reifen müsste.
Anscheinend können Nervenzellen also auch ohne Synapsen Informationen über ihre Nachbarn einholen. Wie sie das schaffen, konnten die Martinsrieder Neurobiologen ebenfalls im vergangenen Jahr klären [3]. Die Wissenschaftler markierten einzelne Nervenzellen mit Fluoreszenzfarbstoffen und beobachteten sie unter einem speziellen Mikroskop. So fanden sie das Geheimnis des Informationsaustauschs: Lokale Kalzium-Signale übermitteln den Zellen schnell alle nötigen Informationen. Erst wenn Zelle und Kontaktstelle für einen langfristigen Kontakt geeignet sind, entsteht tatsächlich eine Synapse. Konkret passiert Folgendes: Trifft ein auswachsender Fortsatz auf eine Nachbarzelle, so löst dies eine Kalzium-Ausschüttung an der Basis des Fortsatzes aus. Dieses Kalzium-Signal funktioniert dann wie ein Stoppschild und der Fortsatz stellt sein Wachstum ein. Gleichzeitig enthält das Signal bereits alle wichtigen Informationen über die Qualität des neuen Kontakts. Denn nur wenn das Kalzium-Signal deutlich höher ist als der umgebende Kalzium-Spiegel der Zelle, bleibt der Kontakt bestehen. Ansonsten zieht sich der Fortsatz zurück und die Nervenzelle sucht an anderer Stelle nach einer geeigneten Partnerzelle. Mithilfe dieser erstaunlich effizienten Technik spart das Gehirn Zeit und Energie und sammelt wichtige Informationen sozusagen im Vorbeigehen.
Auch im Alter flexibel
Die Wissenschaftler konnten viele Fragen zu den Mechanismen des ständigen Umbaus im Gehirn klären. Doch wie flexibel ist das System wirklich, wenn es zum Beispiel darum geht, einen Ausfall im Informationsfluss auszugleichen? Werden zum Beispiel durch einen Unfall Tastsinneszellen der Haut zerstört oder die Netzhaut des Auges beschädigt, so erhalten die für den beschädigten Bereich zuständigen Nervenzellen keine Informationen mehr. Verkümmern diese Zellen dann?
Keinesfalls, wie die Max-Planck Wissenschaftler zeigen konnten [4]. Denn auch im Gehirn gilt: Freie Kapazitäten werden nicht verschwendet. Wie gründlich die Nervenzellen dieses Prinzip jedoch beherzigen, erstaunte die Experten. Die Wissenschaftler konnten zeigen, dass nach einer kleinen punktförmigen Netzhaut-Läsion eine komplette „Neuverdrahtung“ der zuvor für diesen Bereich zuständigen Nervenzellen stattfindet. Bereits nach wenigen Tagen bildeten die Nervenzellen, die nun keine Informationen mehr von „ihren“ Netzhautzellen bekamen, dreimal so viele Fortsätze aus wie nichtbetroffene Nachbarzellen. Das Ergebnis dieser gesteigerten Aktivität konnten die Wissenschaftler nach knapp zwei Monaten bestaunen: Die Nervenzellen hatten ihre vorherigen Kontakte, die durch die Läsion nutzlos geworden waren, nahezu vollständig durch neue Kontakte ersetzt.
Durch diese massive Umstrukturierung der Zellkontakte konnten die zwischenzeitlich arbeitslos gewordenen Nervenzellen nun eingehende Signale aus anderen Netzhautbereichen verarbeiten. Der Schaden kann so wahrscheinlich teilweise kompensiert werden. Besonders überraschend war, dass diese massive Neuverdrahtung auch im erwachsenen Gehirn stattfindet. Eine neue Erkenntnis, die ganz neue Denkanstöße zu den Regenerationsmöglichkeiten bei Verletzungen der Sinnesorgane gibt.
Informationsleitungen auf Vorrat
Durch die sich ständig verändernden Zellverbindungen kann das Gehirn neue Informationen verarbeiten, Überflüssiges vergessen und Schäden zum Teil wieder ausgleichen. Doch können solche Strukturveränderungen auch das bekannte Phänomen erklären, dass es deutlich leichter ist, etwas Vergessenes wiederzuerlernen als etwas ganz neu zu lernen? Die Erfahrung zeigt, dass einmal gelerntes Radfahren schnell wiederkommt, egal wie lange es nicht geübt wurde.
Die Martinsrieder Wissenschaftler konnten nun zeigen, dass es tatsächlich deutliche Unterschiede im Auswachsen von Zellkontakten gibt – je nachdem, ob eine Information neu oder erneut gelernt wird [5]. So wachsen von Nervenzellen deutlich mehr Fortsätze aus, wenn der Informationsfluss von „ihrem„ Auge zeitweise unterbrochen wurde. Nach zirka fünf Tagen hatten sich die Nervenzellen soweit neu verbunden, dass sie nun auf Informationen aus dem anderen Auge reagieren konnten – das Gehirn hatte gelernt, sich mit nur einem Auge zurechtzufinden. Kamen nun wieder Informationen von dem zwischenzeitlich inaktiven Auge, nahmen die Nervenzellen schnell ihre ursprüngliche Arbeit wieder auf und reagierten kaum mehr auf Signale aus dem anderen Auge. Überraschend war jedoch, dass ein Großteil der neu entstandenen Fortsätze bestehen blieb. Alle Beobachtungen deuten darauf hin, dass häufig nur die Synapsen inaktiviert und so die Informationsübertragungen unterbrochen werden. Da eine einmal gemachte Erfahrung vielleicht später noch einmal gebraucht wird, scheint das Gehirn ein paar Fortsätze sozusagen „auf Vorrat“ zu behalten. Und tatsächlich: Wurde das gleiche Auge zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal inaktiviert, verlief die Neuorganisation der Nervenzellen deutlich schneller – und das, obwohl keine neuen Fortsätze entstanden. Diese Beständigkeit einiger der einmal gebildeten Fortsätze erleichtert ein späteres Wiedererlernen, da nur die Synapse wieder aufgebaut werden muss. Eine bedeutende Erkenntnis zum Verständnis der grundlegenden Vorgänge beim Lernen und Erinnern.
Eine vielversprechende Entwicklung
Wie dieser Bericht zeigt, gelang den Martinsrieder Neurobiologen in relativ kurzer Zeit eine ganze Reihe neuer Einblicke in die Vorgänge im Gehirn. Ein limitierender Faktor bei allen Untersuchungen ist jedoch immer die Auflösung der benutzen Mikroskope. Die Auflösungsgrenze herkömmlicher Lichtmikroskope liegt bei 0.2 Mikrometern (im Vergleich: Ein menschliches Haar hat einen Durchmesser von 120 Mikrometern). Die von Nervenzellen zur Kontaktsuche ausgeschickten Fortsätze können daher gut mit diesen Mikroskopen beobachtet werden – ihre Wachstumsbewegungen liegen in einer Größenordnung von 0.2 bis 2 Mikrometern (Abb. 3). Um jedoch feinere Details zu beobachten, wie zum Beispiel die Veränderungen einer Synapse, reicht die Auflösung nicht mehr aus. Solche Details liegen zum Teil im Bereich von nur 0.04 Mikrometern und waren bislang nur mit dem Elektronenmikroskop zu beobachten. Der große Nachteil des Elektronenmikroskops ist jedoch, dass untersuchtes Zellmaterial im Vorfeld fixiert werden muss. Reaktionen und Veränderungen lebender Zellen zu beobachten ist daher unmöglich.
Doch auch hier gelang den Wissenschaftlern im letzten Jahr ein Durchbruch [6]. In enger Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für biophysikalische Chemie gelang die Beobachtung lebender Nervenzellen unter dem revolutionären STED-Mikroskop. Dieses spezielle Mikroskop hat eine bis zu 10fach verbesserte Auflösung gegenüber herkömmlichen Mikroskopen. So können winzige Zellstrukturen mit einer Größe von 0.02 bis 0.05 Mikrometern getrennt voneinander beobachten werden. In Reihenaufnahmen von bis zu hundert Bildern konnten die Wissenschaftler nun Veränderungen des Kopfes eines Nervenzellfortsatzes in einer nie dagewesenen Auflösung beobachten. Mit diesem neuen Werkzeug scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis weitere Details aus den verborgenen Vorgängen des Gehirns geklärt werden können.