Morphologische Plastizität in Neuronen und ihre Konkurrenz um synaptische Proteine
Forschungsbericht (importiert) 2005 - Max-Planck-Institut für Neurobiologie
Gehirn, Nervenzellen und Dornen
Obwohl das Gehirn bei weitem nicht die Schnelligkeit eines Computers erreicht, ist es in seiner Lernfähigkeit und seinem Erinnerungsvermögen bislang unübertroffen. Grundlage dafür ist die flexible Vernetzung der über 100 Milliarden Nervenzellen des Gehirns. Neurowissenschaftlern ist schon lange bekannt, dass die Verschaltung der Nervenzellen untereinander nicht statisch ist, sondern ständig auf sich ändernde Umweltbedingungen reagieren kann und somit eine lebenslange Veränderbarkeit bewahrt. Im Mittel haben Nervenzellen 10 000 - 100 000 Synapsen, über die sie mit anderen Nervenzellen in Kontakt stehen. Diese können neu aufgebaut, abgebaut, in ihrer Effektivität verstärkt (z.B. beim Lernen) oder abgeschwächt werden. Diese Flexibilität - auch Plastizität genannt - ist eine Grundeigenschaft des zentralen Nervensystems.
Neurowissenschaftler der Abteilung Zelluläre und Systemneurobiologie haben nun einige der bedeutenden neurochemischen und zellulären Mechanismen aufgeklärt, die für die lebenslange Formbarkeit des Nervensystems verantwortlich sind. Es gelang, erstmalig zu beobachten, dass Nervenzellen unter intensiver elektrischer Reizung, die experimentell eine erhöhte Aktivität der Nerven simuliert, dornenartige Strukturen, so genannte spines, ausbilden. Mit einiger Sicherheit wird mittlerweile vermutet, dass diese Dornen dazu dienen, weitere Synapsen mit benachbarten Nervenzellen aufzubauen. In neuesten Studien an Nervenzellen in Gewebekulturen, die aus der an Gedächtnisvorgängen wesentlich beteiligten Gehirnregion des Hippokampus stammten, konnte Valentin Nägerl mit seiner Arbeitsgruppe in der Abteilung von Tobias Bonhoeffer nun auch eine Rückbildung dieser Dornen beobachten -die Plastizität bestimmter Nervenzellen in beide Richtungen – Bildung und Rückbildung von spines - war damit erstmalig gezeigt.
Kommunikation, Neurotransmitter, Potenziale
Die Kommunikation zwischen Nervenzellen wird gemessen, indem z.B. präsynaptische Nervenfasern durch elektrische Pulse gereizt und die Reizantworten der nachgeschalteten Nervenzellen elektrophysiologisch abgeleitet werden. Die Signalantworten werden als Spannungsänderungen in den Nervenzellen gemessen. Stimulation mit hoher Reizfrequenz kann dazu führen, dass an den beteiligten Synapsen einerseits mehr Neurotransmitter von der präsynaptischen Zelle ausgeschüttet und andererseits postynaptische Reaktionen auf die Neurotransmitterfreisetzung hochreguliert werden. Dieses Phänomen wird Langzeitpotenzierung (long-term potentiation, LTP) genannt. Sie kann über mehrere Stunden und sogar Wochen bestehen bleiben und stellt somit eine Form des synaptischen Gedächtnisses dar.
Markiert man in einer Gewebekultur einzelne Nervenzellen mit fluoreszierendem Farbstoff (z.B. green fluorescent protein, GFP) und betrachtet sie nachfolgend mit einem hoch auflösenden Zweiphotonen Laser-Scanning Mikroskop, so kann man nun die Veränderungen in deren synaptischen Grundbausteinen, wie z.B. die Bildung oder das Verschwinden der Dornen, beobachten. Die einzelnen lebenden Nervenzellen können so im dichten Gewirr der zigtausend anderen Nervenzellen, die nicht gefärbt sind, unterschieden werden. Bei intensiver Reizung konnte als Erstes die bereits bekannte Entstehung von Dornen registriert werden (Abb. 1).
In weiteren Experimenten wurde nun die Reaktion von Nervenzellen auf Stimulation mit niedriger Reizfrequenz, die normalerweise zu einer mehrere Stunden dauernden Verringerung der Reizübertragung zwischen Nervenzellen führt (Langzeitdepression; long-term depression, LTD), untersucht. Bei dieser Stimulation zeigte sich eine Rückbildung von Dornen (Abb. 2). Da die Langzeitdepression das Gegenstück zur Langzeitpotenzierung ist und letztere als Grundlage für Lernen und Gedächtnis angesehen wird, nimmt man an, dass umgekehrt das Vergessen von Information auf Langzeitdepression und dem Verlust von Dornen beruht.
Wettlauf um Plastizitätsfaktoren
Eine zweite wichtige Studie zu den Hintergründen von Lernen und Gedächtnis wurde von der portugiesischen Doktorandin Rosalina Fonseca zusammen mit Valentin Nägerl, Tobias Bonhoeffer und in Kooperation mit Richard Morris, Centre for Neuroscience der Universität Edinburgh, durchgeführt. Sie konnten zeigen, dass Synapsen, die durch intensive Reizung verstärkt wurden, miteinander in einen Wettstreit um die Plastizitätsfaktoren treten, die eine Langzeitpotenzierung der Synapsen ermöglichen.
Rosalina Fonseca experimentierte mit Hippokampus-Hirnschnitten. Sie stimulierte zwei unabhängige Signalwege, die zu einer gemeinsamen Zielzelle führten, sodass an beiden Wegen eine Langzeitpotenzierung aufgebaut wurde. Frau Fonseca überprüfte die Reaktion der Synapsen, wenn diesen nur in begrenztem Maße Signalproteine zur Verfügung standen: Mit einer chemischen Substanz (Anisomycin) blockierte die Doktorandin die Proteinsynthese. Stimulierte sie die Nervenzellen erneut, stellte sie fest, dass die Verstärkung von Synapsen desjenigen Signalweges, der bei der ersten Aktivierung eine deutlichere Langzeitpotenzierung aufgebaut hatte, auf den zweiten, „schwächeren“ Signalweg eine negative Auswirkung hatte: Dieser zweite Weg nahm nämlich plötzlich in seiner Übertragungsstärke ab. Offensichtlich zog der „stärkere“ Signalweg Ressourcen vom „schwächeren“ Weg ab (Abb. 3).
Damit konnten Frau Fonseca und ihre Kollegen zeigen, dass eine apparente Konkurrenz um die Ressourcen der Plastizitätsfaktoren besteht. Diese Annahme wurde erhärtet, weil weitere Experimente darauf hindeuteten, dass die Plastizitätsfaktoren von einem Signalweg zum anderen hin abgezogen worden sind. Je länger die Proteinsynthese blockiert und damit auch die Konkurrenz um Botenstoffe erhöht wurde, desto stärker war die Auswirkung auf den zweiten Signalweg. Auch die örtliche Entfernung der Signalwege voneinander spielte eine Rolle: Je weiter der zweite Weg vom ersten entfernt war, desto schwächer war der Einfluss der Botenstoffe des ersten Signalweges.
Ob das Verschwinden der dornenartigen Fortsätze die tatsächliche Ursache für das Vergessen von Information ist, kann aus den Studien von Tobias Bonhoeffer und seiner Abteilung nicht endgültig gefolgert werden. Es spricht jedoch vieles dafür, denn Bonhoeffer und Kollegen konnten einen klaren Zusammenhang zwischen der Rückbildung der Dornen und Langzeitdepression zeigen: Letztere ist mehrfach mit Vergessen in Zusammenhang gebracht worden. Die Konkurrenz um die Botenstoffe zwischen bestehenden Signalwegen, die von den Martinsrieder Wissenschaftlern erstmalig gezeigt wurde, könnte eine weitere Erklärung für die Plastizität unseres Gehirns und damit auch unseres Gedächtnisses und Lernvermögens sein. Signalwege, die stärker aktiv sind, könnten sich durch die Konkurrenz um Botenstoffe abschwächend auf nicht genutzte Signalwege auswirken und damit vielleicht nicht mehr benötigte Information in den Hintergrund drängen oder sogar ganz auslöschen.