Endocytose ist ein wichtiger Mechanismus bei der Wegfindung von Zellen während der Entwicklung des Nervensystems
Forschungsbericht (importiert) 2003 - Max-Planck-Institut für Neurobiologie
Nervenzellen entwickeln während ihres Wachstums einen langen Fortsatz (Axon) sowie mehrere kurze fein verzweigte Fortsätze (Dendriten). Das Axon selbst wiederum bildet einen Wachstumskegel mit fußartigen und fühlerartigen Ausläufern (Lamellipodien und Filopodien) aus, mit deren Hilfe sich die Nervenzelle ihren Weg durch das Gewebe bahnt bzw. mit anderen Nervenzellen zu einem Nervensystem verbindet. Andere Zellen, mit denen die wandernde Zelle in Berührung kommt, weisen ihr dabei den Weg, indem sie kurz an die Nervenzelle binden und diese dann wieder abstoßen.
Wissenschaftler der Abteilung Molekulare Neurobiologie untersuchen, mit welchen Mechanismen Nervenzellen untereinander Kontakt aufnehmen. Im Zentrum ihrer Forschung stehen dabei zwei spezielle Protein-Gruppen, die Ephrin-Liganden und die Eph-Rezeptoren, die wie ein Schlüssel zu seinem Schloss ineinander passen. Über eine Verankerung in der Zellmembran sitzen diese Proteine fest auf der Oberfläche der Zellen, die sich begegnen. Jeweils ein Ephrin-Ligand der "wegsuchenden" Zelle kann mit einem Eph-Rezeptor einer "wegweisenden" Zelle binden oder umgekehrt. Sie bilden einen so genannten Ephrin/Eph-Komplex, eine feste Verbindung, über die das Rezeptorprotein - wie eine Antenne - ein Signal in das Innere der Zelle weitergibt, auf der es sitzt. Dadurch werden zelluläre Prozesse ausgelöst, die schließlich zur Abstoßung der beiden Zellen voneinander führen. Die endgültige Trennung der Zellen wird dann durch das Auflösen des Ephrin/Eph-Komplexes ausgelöst. Ephrine und Eph-Rezeptoren gehören zu den Rezeptor-Tyrosinkinasen, die durch Phosphorylierung aktiviert werden. Sie kommen in zwei Unterklassen EphA und EphB bzw. ephrinA und ephrinB vor. Sie spielen wichtige Rollen bei der Organbildung während der Embryogenese, bei der Entwicklung des Nervensystems und der Blutgefäβe, aber auch bei pathologischen Vorgängen wie Tumorwachstum.
Unter Endozytose versteht man im weitesten Sinne die Aufnahme von extrazellulärem Material durch Zellen. Allerdings werden unterschiedliche Formen der Endozytose je nach molekularem Mechanismus unterschieden. Die Studien zur Ephrin/Eph-Endozytose wurden an Zellen in Kultur und aus Gewebe studiert, die EphB2 Rezeptoren bzw. ephrinB1-Liganden exprimierten. Dabei brachte man Nervenzellen mit Tumorzellen (so genannte HeLa-Zellen) zusammen und konnte so die Kontaktaufnahme bzw die darauffolgende Abstoßungsreaktion studieren. Mithilfe von Konstrukten aus Antikörpern und EphB2-Rezeptoren konnte nachgewiesen werden, dass Endozytose nur unter Anwesenheit von Ephrin-Liganden geschieht. Endozytose wurde dabei nicht nur bei primären Zellkulturen von Nervenzellen beobachtet sondern auch bei intakten embryonalen Nervenzellen aus Mäusen.
Die wichtigste Beobachtung war, dass die Aufnahme des Ephrin/Eph-Komplexes in die Zelle durch Endocytose erst die Voraussetzung für die Abstoßung der Zellen bildete. Normalerweise kennt man Endocytose als einen Vorgang, mit dem Zellen gelöste Proteine, Partikel aus ihrer Umgebung in Membranen einschließen und in sich aufnehmen. Dass Proteine, die in einer Zellmembran verankert sind, durch die Komplexbildung mit anderen Proteinen aus der Membran gelöst und dann durch Endocytose in beide Nachbarzellen einverleibt werden können, ist völlig neu.
Bei Experimenten, die mit Zellkulturen von Nerven-, Bindegewebs- und Krebszellen (HeLa-Zellen) durchgeführt wurden, konnten gezeigt werden, dass die Endocytose in beide Richtungen erfolgen kann und sowohl in den "wegsuchenden" also auch in den "wegweisenden" Zellen Signalketten im Innern auslöst. Dabei sorgt die vorwärts gerichtete Endocytose (in die Zelle, die den Rezeptor bildet) bei Kontakten zwischen Nervenzellen für die Ablösung des Axons von der wegweisenden Zelle und den Rückzug der Lamellipodien. Die rückwärts gerichtete Endocytose (in die Zelle, die den Liganden bildet) dagegen bewirkt, dass der Wachstumskegel des Axons selbst in sich zusammenfällt (Kollaps). Welche der beiden Endocytose-Arten überwiegt, hängt zum einen vom Zelltyp zum anderen aber zuch von verschiedenen Bedingungen der Umgebung ab, jedoch sind für eine effiziente Abstoßung offensichtlich beide Arten der Endocytose wichtig. Verhindert man die Endozytose in der "wegweisenden" Zelle, hat die "wegsuchende" Zelle Schwierigkeiten, sich von der "wegweisenden" Zelle loszumachen, d.h. der axonale Fortsatz bleibt länger in Kontakt. Dies könnte zu Defekten in der Netzwerkbildung des Gehirns führen.
Unter dem Mikroskop wurden mit Zeitraffer-Videoaufnahmen die Kontaktaufnahmen von Zellen in Zellkultur beobachtet und ausgewertet. Dabei wurde ein Mikroskop eingesetzt, das so ausgerüstet war, dass Zellkulturen wie in einem Inkubator bei 37° C, 65%iger Luftfeuchtigkeit und in 5% CO2-Atmosphäre weiterleben können. Die Ephrin-Liganden und Eph-Rezeptoren wurden mit fluoreszierenden Proteinen markiert, wodurch die Endocytose direkt verfolgt werden konnte. Gleichzeitig filmten wir die Kontaktaufnahme der Zellen im Phasenkontrastlicht. Auf diese Weise konnten wir parallel sowohl die ganzen Zellen als auch das Schicksal ihrer Ephrin/Eph-Rezeptoren genau verfolgen. Die Abbildung 1 zeigt eine Nervenzelle, die mit einer HeLa-Zelle in Kontakt kommt, deren Fortsatz zunächst weit gestreckt wird und dann zusammenbricht. Im Film ist der Kontakt zwischen HeLa-Zellen zu sehen und im fluoreszierenden Bild die Aufnahme des Ephrin/Eph-Komplexes.
Die neue Erkenntnis, dass Endocytose eine wichtige Voraussetzung für die Signalketten bei Wachstum und Entwicklung von Nervensystemen ist, wirft ein völlig neues Bild auf die Rolle von Ephrin-Eph-Komplexen bei der Plastizität im sich entwickelnden Gehirn. Erst kürzlich konnten wir in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern aus der Abteilung Zelluläre und Systemneurobiologie (s. zweiter Forschungsschwerpunkt) nachweisen, dass Ephrin-Eph-Komplexe bei der Neubildung von Synapsen essentiell sind. Dabei könnte die jetzt entdeckte Endozytose des Komplexes ein wichtiger Steuerungsmechanismus sein.