Schlaf zwischen Himmel und Erde
Forschungsbericht (importiert) 2017 - Max-Planck-Institut für Ornithologie
Die Frage, ob Vögel auf langen Nonstop-Flügen schlafen, beschäftigt die Menschheit bereits seit Jahrhunderten. Dennoch fehlte bis vor kurzem ein eindeutiger Beweis. Den Max-Planck-Forschern ist es erstmals gelungen, die Gehirnaktivität von Fregattvögeln in freier Wildbahn zu messen. So haben sie herausgefunden, dass diese während des Fluges tatsächlich schlafen, entweder jeweils nur mit einer oder mit beiden Gehirnhälften gleichzeitig. Insgesamt schliefen die Vögel jedoch weniger als eine Stunde pro Tag, ein Bruchteil der Zeit, die sie an Land schlafend verbringen.
Einleitung
Schlaf ist für die meisten Lebewesen ein essenzieller Bestandteil des Lebens - selbst bei Quallen wurde er bereits nachgewiesen. Obwohl es gefährlich ist, die Umgebung aus den Augen zu lassen, ist Schlafen zwingend notwendig. Warum dies so ist, ist noch immer nicht restlos geklärt. Offenbar finden im Schlaf wichtige Vorgänge im Gehirn statt, die im Wachzustand nicht oder nur eingeschränkt ablaufen können. Schlaf ist sogar derart wichtig, dass das Gehirn Schlafmangel anschließend mit tieferem Schlaf ausgleicht und so eine Mindestmenge davon sicherstellt. Der Zwang, den Schlafmangel auszugleichen, kann dabei so stark sein, dass wir selbst dann einschlafen, wenn es lebensbedrohliche Konsequenzen hat, wie etwa am Steuer eines Autos.
Nonstop-Flüge
Auch Vögel müssen demnach schlafen – manche möglicherweise sogar im Flug. Pfuhlschnepfen (Limosa lapponica baueri) etwa fliegen in acht Tagen von Alaska nach Neuseeland und legen dabei 12.000 Kilometer zurück. Der Bindenfregattvogel (Fregata minor) umkreist bis zu zwei Monate lang den Indischen Ozean, ohne jemals auf dem Wasser zu landen. Der Rekordhalter der Vogelwelt ist aber wohl der Mauersegler (Apus apus), der nahezu die gesamten zehn Monate zwischen den Brutzeiten in der Luft verbringt.
Schlaf im Flug?
Wie kann ein Vogel im Flug schlafen, ohne mit möglichen Hindernissen zu kollidieren oder vom Himmel zu fallen? Eine Lösung wäre es, immer nur eine Hälfte des Hirns schlafen zu lassen (unihemisphärischer Schlaf), wie es in Stockenten (Anas platyrhynchos) nachgewiesen wurde. In einer Gruppe schlafender Enten halten jene Tiere, die am Rand sitzen, das nach außen gerichtete Auge offen, und die dazugehörige Gehirnhälfte bleibt wach [2]. Auf Basis dieser Erkenntnisse und der Tatsache, dass Delfine im unihemisphärischen Schlaf schwimmen können, könnten auch Vögel sich beim Navigieren in der Luft und in der Aufrechterhaltung der Aerodynamik auf eine Art Autopilot verlassen.
Es ist aber auch möglich, dass Vögel einen Weg gefunden haben, den Schlaf auszutricksen. Die Seewiesener Ornithologen fanden heraus, dass männliche Graubrust-Strandläufer (Calidris melanotos) sich im Dauerwettstreit um die Weibchen während der Brutzeit derart anpassen, dass sie über mehrere Wochen hinweg nur sehr wenig schlafen [3]. Es besteht also die Möglichkeit, dass Vögel einfach während ihrer langen Flüge auf Schlaf verzichten.
Um letztlich wirklich beweisen zu können, ob und wie Vögel im Flug schlafen, musste eine Möglichkeit gefunden werden, die Gehirnaktivität der Tiere aufzuzeichnen. Diese unterscheidet sich im Wachzustand von der Aktivität während der beiden Schlafarten der Vögel, des SW-Schlafs (slow-wave sleep) mit langsam schwingenden und des REM-Schlafs (rapid eye movement) mit schnell schwingenden Gehirnwellen. Alexei Vyssotski (Universität und ETH Zürich) entwickelte ein Gerät, das klein genug war, um die EEG-Aktivitäten und Kopfbewegungen fliegender Vögel aufzuzeichnen. Damit untersuchten die Max-Planck-Forscher an Fregattvögeln, ob sie während des Fluges schlafen.
Diese Seevögel kreisen über Wochen nonstop über dem Ozean auf der Suche nachfliegenden Fischen und Kalmaren, die von Delfinen und anderen Raubfischen an die Wasseroberfläche getrieben werden. Auf dem Kopf von weiblichen Fregattvögeln, die auf den Galápagos Inseln nisteten, wurden zeitweise „Flugdatenrekorder“ befestigt. Da sie sich um eine Brut kümmerten, kehrten alle Vögel nach Flügen von bis zu 10 Tagen und 3.000 Kilometern wieder zu ihrem Nest zurück, wo die Rekorder wieder entfernt werden konnten. Während des Fluges nahm der Rekorder die EEG-Aktivitäten beider Gehirnhälften sowie die Bewegungen des Kopfes auf, während ein GPS-Gerät am Rücken des Vogels die Position und Flughöhe aufzeichnete. Die Daten zeigten, dass Fregattvögel während des Fluges teils auf erwartete und teils auf unerwartete Art und Weise schlafen [4].
Am Tag blieben die Vögel während der aktiven Nahrungssuche wach. Nach Sonnenuntergang veränderte sich die EEG-Struktur vom Wachzustand zu SW-Schlafperioden von bis zu mehreren Minuten. Überraschenderweise trat der SW-Schlaf nicht nur auf einer Gehirnhälfte auf, sondern auch auf beiden gleichzeitig. Das Auftreten des bi-hemisphärischen Schlafes deutet an, dass einseitiges Wachbleiben einer Gehirnhälfte nicht notwendig ist, um die aerodynamische Kontrolle zu wahren. Dennoch trat einseitiger SW-Schlaf deutlich häufiger während des Fluges auf als an Land.
Die Aufzeichnungen der Bewegungen des Vogelkopfes ergaben einige Hinweise darauf, warum die Vögel im Flug einseitig schlafen. Beim Segeln in den Luftströmungen bleibt meistens eine Seite wach, und zwar diejenige, die mit dem in Flugrichtung blickenden Auge verbunden ist. Die Vögel gaben also durchaus acht darauf, wohin sie flogen. Neben dem SW-Schlaf registrierten die Messgeräte hin und wieder auch kurze Episoden von sogenanntem REM-Schlaf. Diese waren durch ein kurzes Absinken des Kopfes charakterisiert, wie es auch während des REM-Schlafes an Land beobachtet wurde. Trotzdem beeinflusste dies nicht den generellen Flugweg.
Die größte Überraschung war allerdings, dass sich die Vögel trotz ihrer Fähigkeit, im Flug schlafen zu können, kaum Schlaf gönnen: Fregattvögel schliefen während des Flugs nur 42 Minuten pro Tag. Im Vergleich dazu schliefen sie zurück an Land mehr als 12 Stunden pro Tag. Außerdem waren die einzelnen Schlafphasen an Land deutlich länger und tiefer. Daraus lässt sich schließen, dass Fregattvögel während des Fluges an Schlafmangel litten. Dennoch, wie schon bei den Graubrust-Strandläufermännchen beobachtet, und im Unterschied zu anderen unter Schlafentzug leidenden Tieren (einschließlich einiger Vögel [5]), scheinen Fregattvögel sich an den Schlafmangel anzupassen.
Wie und warum Fregattvögel und Graubrust-Strandläufer die negativen Effekte des Schlafmangels kompensieren können, bleibt zunächst ein Rätsel. Indem wir diese Erkenntnisse mit dem Wissen über die Bedeutung des Schlafes in anderen Tierarten in Einklang bringen, können wir künftig ein neues Verständnis für den Schlaf und die negativen Auswirkungen des Schlafverlustes erlangen.