Individuelles Sexualverhalten: die (manchmal) entscheidende Rolle der Mütter
Forschungsbericht (importiert) 2004 - Max-Planck-Institut für Ornithologie
Individuen derselben Art und desselben Geschlechts unterscheiden sich oftmals dramatisch in ihren Eigenschaften und Verhaltensweisen. Diese Individualität, die uns vom Menschen her als Variation in der Persönlichkeit geläufig ist, stößt nun auch bei Tierforschern auf wachsendes Interesse. Der Zebrafink (Taeniopygia guttata; Abb. 1) dient dabei den Forschern am MPI für Ornithologie in Seewiesen als Modellorganismus. Der Grund für die Wahl dieses Untersuchungsobjekts liegt in der hohen Vermehrungsrate, die der australische Prachtfink unter „Laborbedingungen“ erreicht. So lassen sich im Laufe weniger Jahre mehrere Generationen von Zebrafinken heranzüchten, was den Forschern wertvolle Einblicke in die Vererbung von Persönlichkeitsunterschieden erlaubt.
Persönlichkeitsunterschiede beim Zebrafinken
Entlässt man mehrere individuell kenntliche Männchen und Weibchen aus der Einzelkäfighaltung in eine gemeinschaftliche Voliere, so fallen die Verhaltensunterschiede sofort ins Auge: Manche Männchen sind ihren Artgenossen gegenüber äußerst aggressiv, während andere einen eher friedlichen Charakter besitzen. Einige Männchen beginnen sogleich und mit großer Ausdauer, Weibchen anzubalzen, während andere sich eher scheu verhalten. Unter den Weibchen wiederum gibt es solche, die sofort bereit sind, mit einem oder auch mehreren Männchen zu kopulieren, während andere alle Annäherungsversuche strikt abwehren. Bei der Wiederholung solcher Testsituationen ist festzustellen, dass die Individuen recht unabhängig vom Verhalten ihrer Artgenossen immer wieder den gleichen Verhaltenstyp zeigen. Es drängen sich also die Fragen auf: Welche Mechanismen bestimmen das individuelle Sexualverhalten, und was ist der evolutionäre Anpassungswert dieser Individualität?
Unterschiede im Sexualverhalten: Gene oder Umwelt?
Welche Faktoren für die Ausprägung solcher individuellen Unterschiede im Sexualverhalten verantwortlich sind, ist bislang nur bei wenigen Tierarten untersucht worden. Selbst bei relativ leicht zu untersuchenden Tiergruppen wie Insekten oder Fischen ist das Wissen über die Vererbung der Sexualität noch sehr begrenzt. Ähnliches gilt für den Menschen, vermutlich weil das Sexualverhalten nie als Gegenstand der Persönlichkeitsforschung angesehen wurde. Eine einzige Untersuchung an australischen Zwillingen fand jedoch eine starke Erblichkeit für weibliche, aber nicht für männliche Promiskuität [1].
Zur Durchführung quantitativ genetischer Analysen werden sehr große Stichproben benötigt, was bei vielen Vogelarten, insbesondere bei Freilanduntersuchungen, kaum zu erreichen ist. Dennoch bieten Vögel einen besonderen Reiz: Sie stehen den Säugern hinsichtlich ihrer Verhaltenskomplexität sehr nahe, bei ihnen findet jedoch die Embryonalentwicklung im Ei und damit in einem von der Mutter getrennten Raum statt. Dies ermöglicht, die Eier an Zieheltern weiterzugeben (experimentelles Fostern) und so die verhaltensbestimmenden Faktoren weiter aufzutrennen als dies bei Säugern möglich wäre. Es lassen sich unterscheiden: additive genetische Effekte, genetische maternale (d. h. mütterliche) Effekte, nicht-genetische maternale Effekte, Umwelteffekte während der Bebrütungszeit und Umwelteffekte während der Nestlings- und Juvenilphase.
Gene, maternale Effekte oder frühe Umwelt?
Erste Untersuchungen am Zebrafinken haben nun gezeigt, dass die Unterschiede in weiblicher Kopulationsbereitschaft etwa zur Hälfte genetisch vererbt sind (Abb. 2). Weder maternale Effekte (Eikomponenten oder Bebrütung) noch frühe Umwelt (Aufzucht oder Geschwister) scheinen hierauf einen messbaren Einfluss zu haben. Im Gegensatz dazu scheint die Variation in männlicher Aggressivität und männlichem Sexualtrieb vorrangig von der Mutter bestimmt zu sein (Abb. 2). Manche Mütter erzeugen stets aggressive Söhne, andere erzeugen Söhne mit starkem Sexualtrieb und wieder andere ganz zurückhaltende. Dies hängt jedoch weniger von den Genen der Mütter ab als von noch unbekannten Umweltfaktoren, welche die Mütter veranlassen, diese Effekte auszuüben [2]. Der wahrscheinlichste Vermittlungsweg erfolgt über noch unbekannte, nicht-genetische Eikomponenten. Derzeit erscheint es denkbar, dass diese Effekte von Sexualhormonen hervorgerufen werden, welche Mütter ihren Nachkommen im Eidotter mitgeben.
Strategische Programmierung durch die Mutter?
Der überraschende Befund einer maternalen Determinierung des Verhaltens der Söhne hat die Forscher vom Max-Planck-Institut für Ornithologie dazu veranlasst, die Hypothese der „strategischen Programmierung“ aufzustellen (Abb. 3): Unterschiedliche soziale Bedingungen (z. B. Variation im Geschlechterverhältnis, Häufigkeit von Kontakten mit Nachbarn) verschaffen jeweils unterschiedlichen Männchentypen einen Konkurrenzvorteil. Bei ausgewogenem Geschlechterverhältnis und seltenem Nachbarkontakt haben monogam veranlagte Männchen (geringe Aggressivität und geringer Sexualtrieb) einen Selektionsvorteil, da sie all ihre Energien auf die Brutfürsorge konzentrieren können. Bei Weibchenüberschuss hingegen haben Männchen mit starkem Sexualtrieb einen Vorteil, bei Weibchenmangel setzen sich vor allem die aggressiven Männchen durch. Wenn also die gefundenen maternalen Effekte tatsächlich einer gezielten Vorprogrammierung der Söhne dienten, dann sollten die Mütter - je nach sozialer Situation - die entsprechenden Männchentypen produzieren.
Ein erster Test dieser Hypothese, bei dem Mütter der ersten Zuchtgeneration unter drei verschiedenen Sozialbedingungen Nachkommen produzierten, erbrachte folgendes Ergebnis: Wie zuvor unterschieden sich die Söhne individuell sehr konsistent in ihrem Verhalten, jedoch hatte diesmal weder die Umwelt der Mutter noch die Mutter selbst einen nennenswerten Einfluss auf das Verhalten der Söhne (Abb. 4). Anders als zuvor gab es diesmal kaum Ähnlichkeiten im Verhalten von Vollgeschwistern und so musste der Großteil der Variation ungeklärt bleiben. Der Einfluss der ziehelterlichen Umwelt hatte jedoch im Vergleich zur vorangegangenen Generation deutlich zugenommen. Seitens der Weibchen (Kopulationsbereitschaft der Töchter) gab es auch erhebliche Veränderungen zwischen den beiden Generationen. Maternale Effekte traten nun an die Stelle vormaliger genetischer Variation.
Dieser unerwartete Befund gibt den Ornithologen in Seewiesen Rätsel auf: Obwohl sich die Zuchtbedingungen zwischen den zwei untersuchten Generationen kaum verändert hatten, hat sich der prinzipielle Mechanismus der Verhaltensdeterminierung verändert. Die Herausforderung besteht nun darin herauszufinden, welcher Aspekt der Umwelt die maternalen Effekte manchmal verursacht und manchmal verschwinden lässt. Bemerkenswert ist das bisherige Ergebnis jedoch allemal: Es veranschaulicht, welch geringfügige Änderungen in Umwelt- oder Zuchtbedingungen bereits das vermeintlich so fundamentale Muster der Vererbung von Verhaltensweisen verändern können. Die hohe Flexibilität der Determinierung könnte möglicherweise auch erklären, warum die verschiedenen Arbeitsgruppen im Forschungsbereich der sexuellen Selektion so häufig zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Gelänge es den Forschern am MPI jedoch, durch Manipulation des entscheidenden Umweltfaktors die maternalen Effekte gezielt an- und abzuschalten, dann wäre man einen für das gesamte Forschungsgebiet entscheidenden Schritt weitergekommen.
Individualität und evolutionärer Anpassungswert
Abgesehen vom Anpassungswert, den eine gezielte maternale Programmierung mit sich brächte, stellen sich die Forscher auch die Frage nach dem Wert von Individualität ganz generell (beispielsweise im Fall von weiblicher Promiskuität). Weshalb entsteht überhaupt eine individuelle Vielfalt an Verhaltensweisen? Bringt es irgendeinen evolutionären Vorteil, ein Sexualverhalten zu zeigen, das vom statistischen Durchschnitt abweicht? Zu dieser Frage gibt es bislang vor allem theoretische Konzepte, die dringend einer empirischen Überprüfung bedürfen. Diese Konzepte beinhalten: (1) Frequenzabhängige Selektion: Eine relativ seltene Strategie ist einer häufigen Strategie überlegen, da sie eine unterbesetzte Nische ausnutzt, vergleichbar mit der Berufswahl beim Menschen; (2) Ein Spezialist ist einem Generalisten in seiner Nische überlegen, ein Prinzip, das ebenfalls auf den Menschen anwendbar ist. Die empirische Überprüfung dieser Hypothesen am konkreten Beispiel der Unterschiede im Sexualverhalten von Zebrafinken soll in den kommenden Jahren am Max-Planck-Institut für Ornithologie versucht werden. Dazu wurden jetzt genetische Marker zur Vater- und Mutterschaftsbestimmung entwickelt, welche für die Messung von Fitness (Reproduktionserfolg) in Volieren unabdingbar sind. Auf diese Weise wollen die Forscher in den kommenden Jahren den Fragen nach der Determinierung und dem Anpassungswert von Persönlichkeitsunterschieden nachgehen.