Gesangstraditionen und Sprache

Bird song tradition and human language

Forschungsbericht (importiert) 2003 - Max-Planck-Institut für Ornithologie

Autoren
Salwiczek, Lucie H.
Abteilungen
Zusammenfassung
Menschensprache und Vogelgesang sind unabhängig voneinander entstandene Kommunikationssysteme. Ein groß angelegter Vergleich offenbarte mehr Parallelen im Erwerb und in der Funktion als erwartet. Darüber hinaus spielen zwischenartlich gelernte Elemente im Vogelgesang in der Kognitionsforschung eine zunehmend wichtigere Rolle. Als "Sonden" in den Normalgesang eingeschleust können sie helfen, die Bedeutung einzelner Elemente zu erhellen und gegebenenfalls zu prüfen, ob der Vogelgesang ein ähnlich rekursives System wie die menschliche Sprache ist, das heißt ob eine Änderung der Reihenfolge von Elementen die Bedeutung der ganzen Folge ändert. Und man kann hoffen, mit ihnen etwas über den Selektionsvorteil tradierter (von Gehirn zu Gehirn weitergegebener) Verhaltensanteile zu erfahren. Am Beispiel von fremd aufgezogen Haussperlingen legt Lucie Salwiczek vom MPI für Verhaltensphysiologie dar, wie wesentlich ein integrativer Ansatz für das Verstehen kognitiver Verhaltensleistungen ist. Er liefert neue Erkenntnisse über die neuroanatomischen Korrelate des Lernens und über die Bedeutung morphologischer Strukturen für die Wiedergabe des Gelernten.
Zusammenfassung
Human language and bird song are convergently evolved communication systems. A large-scale comparison revealed more developmental and functional parallels than are usually assumed. Song elements copied from foreign species have become a valuable research tool in cognition analysis. Experimentally introduced into the species-specific song such elements can help to elucidate the meaning of single song elements and to test whether birdsong is a recursive system, i.e. that altering the element sequence can change that sequence's general meaning, as is the case in our language. Also, it opens the possibility to pinpoint the evolutionary consequences of traditive (from brain to brain tranferred) behaviour traits. Using canary-raised house sparrows, Lucie H. Salwiczek at the Max Planck Institute for Behavioural Physiology demonstrated the importance of an integrative approach for our understanding of cognitive capabilities in animal behaviour, with a special emphasis on neuro-anatomical correlates of learning and the constraining role of morphological body-structures in reproducing a learnt behaviour.

Vogelgesang ist die bekannteste und bestuntersuchte Form von Tradition im Tierreich. Schon Immanuel Kant (1724-1804) betont das in seiner 1803 veröffentlichten Schrift ,Über Pädagogik': "Um sich zu überzeugen, dass die Vögel nicht aus Instinkt singen, sondern es wirklich lernen, lohnt es der Mühe, die Probe zu machen und etwa die Hälfte von ihren Eiern den Kanarienvögeln wegzunehmen und ihnen Sperlingseier unterzulegen, oder auch wohl die ganz jungen Sperlinge mit ihren eigenen Jungen zu vertauschen. Bringt man diese nun in eine Stube, wo sie die Sperlinge nicht draußen hören können, so lernen sie den Gesang der Kanarienvögel, und man bekommt singende Sperlinge. Es ist auch in der Tat sehr zu bewundern, dass jede Vogelgattung durch alle Generationen einen gewissen Hauptgesang behält, und die Tradition des Gesanges ist wohl die treueste in der Welt". Darin sind zwei bemerkenswerte Behauptungen enthalten: 1. Tradierte Gesänge der Vögel seien den Sprachtraditionen des Menschen vergleichbar; 2. Hausspatzen könnten lernen wie ein Kanarienvogel zu singen. Die Emeritusgruppe "Evolutionsorientierte Vergleichende Verhaltensforschung hat beide Themen aufgegriffen und berichtet jetzt - zufällig im Ehrenjahr von Immanuel Kant - darüber.

Menschensprache und Vogelgesang sind unabhängig voneinander entstanden, sind also konvergente Entwicklungen. Konvergenzforschung setzt an solchen funktionalen Ähnlichkeiten an, um die Selektionsdrücke und Umweltfaktoren (ökologische und soziale) zu finden, welche zu den betrachteten Übereinstimmungen geführt haben. Da in der Evolution das Endergebnis, nicht aber ein bestimmter Mechanismus selektiert wird, können konvergente (Verhaltens-) Ähnlichkeiten mit recht verschiedenen (neuralen) Mechanismen zustande kommen.

Parallelen zwischen Sprache und Gesang

Ein groß angelegter Vergleich von menschlicher Sprache und gesanglicher Kommunikation der Vögel [1, 2] offenbarte mehr funktionale Parallelen als erwartet. Dies betrifft vor allem das Erlernen von Sprache durch Kinder beziehungsweise des Gesangs bei jungen Vögeln. So führt zum Beispiel soziale Isolation in beiden Fällen zu abnormen akustischen Lautäußerungen, welche dem Individuum eine soziale Integration unmöglich machen. Beide Gruppen erlernen ihr Kommunikationssystem während einer sensiblen Phase und können aufgrund einer genetischen Disposition artgemäße von fremden, sinnlosen Lauten unterscheiden. Beide können die vokale Kommunikation mit der optischen kombinieren: Menschen verleihen ihren Worten entsprechende Bedeutung durch Mimik und Gestik, einige Singvögel begleiten ihren Gesang mit deutlichen Körperbewegungen. Und sowohl bei den Menschen als auch bei den Vögeln scheint die vokale Kommunikation eher mit sozialer als mit technischer Intelligenz zu korrelieren.
Ein solches, nicht genetisch, sondern von Gehirn zu Gehirn weitergegebenes Kommunikatikonssystem kann in beiden Fällen schwerwiegende evolutionäre Konsequenzen haben, indem es die Verbreitung der Gene einschränkt. Menschen aller Nationalitäten gehören zur gleichen Art Homo sapiens, aber unterschiedliche Sprachen wirken hemmend auf die Paarbildung und damit auf den Genaustausch zwischen verschiedenen Populationen. Auch innerhalb einiger Singvogelarten sind durch extreme Dialektbildungen "Sprachbarrieren" entstanden, welche die Ausbreitung der Gene einschränken.

Fremdelemente als Sonden im Vogelgesang

Menschliche Sprache ist ein rekursives System. Schon durch Umstellen der Reihenfolge bedeutungsträchtiger Elemente (Worte) lässt sich die Grundbedeutung eines Satzes verändern. Als Beispiel: es wird kalt! (Aussage); wird es kalt? (Frage); falls es kalt wird... (Konditional-Aussage). Vergleichbares, so wird behauptet, sei Tieren unmöglich. Im vokalen Kommunikationssystem solcher Vögel, die variabel singen, könnte man am ehesten ein unserer Sprache ähnliches rekursives System erwarten. Um das zu prüfen, müsste man allerdings zunächst die Bedeutung der Einzelelemente im Gesang dieser Vögel kennen, und diese Kenntnis fehlt bislang. Tatsächlich können manche Vögel mit erlernten Menschenworten überraschend sinnvoll umgehen. Von Vögeln verwendete menschliche Worte haben nun zwar den Vorteil, dass wir ihre Bedeutung kennen, aber die Vögel benutzen sie dann nur im Umgang mit Menschen (so wie auch die höchsten kognitiven Fähigkeiten der Menschenaffen für uns bislang nur erkennbar werden, wenn sie unter menschlicher Anleitung einsetzen).

Mit dem Trick, durch soziales Lernen artfremde Elemente (sozusagen als Sonden) in das normale Vokabular eines Vogels einzuschleusen, könnte man in der Frage nach der Bedeutung einzelner Elemente weiterkommen, indem man prüft, wann und wo diese Fremd-Elemente dann verwendet werden. Gegebenenfalls lässt sich prüfen, ob der Vogelgesang ein ähnlich rekursives System wie die menschliche Sprache ist, das heißt ob eine Änderung der Reihenfolge von Elementen die Bedeutung der ganzen Folge ändert.

Übergeordnet wichtig sind die zwischenartlich tradierten Vokabular-Anteile im Vogelgesang schließlich, weil nur sie bislang eine Analyse des Selektionsvorteils sozial erlernter Verhaltensweisen erlauben. Bei psychologisch wie evolutionär orientierten Verhaltensforschern finden zwar die nicht-genetischen, per Tradition weitergegebenen Verhaltensprogramme (Werkzeuggebrauch oder Essgewohnheiten bei Primaten) immer stärkeres Interesse. Doch keine dieser "proto-kulturellen" Verhaltensweisen scheint für einen Primaten wirklich lebenswichtig und selektionswirksam zu sein. Die sozial tradierten Vogelgesänge jedoch bilden in jeder Art das Haupt-Kommunikationsmittel; sie entscheiden über den Fortpflanzungserfolg und können sogar die genetische Evolution ins Schlepptau nehmen [1, 2].

Der Spatz als Modellvogel

Die zweite auffällige Behauptung in der oben zitierten Passage bei Immanuel Kant sind die "kanarisch singenden" Sperlinge. Grundlage für das Gesangslernen sind spezielle Bereiche im Vorderhirn und es ist vielfältig belegt, dass bei Singvögeln die für das Erkennen und Produzieren des Gesanges verantwortlichen Hirnareale in Größe und Aufbau eng mit dem arteigenen Vokalrepertoire korrelieren. Gar nicht dazu passend schien die Angabe, dass das sprichwörtliche Spatzengehirn den komplexeren Kanariengesang meistern kann. Andererseits war es verlockend, diesem Fall nachzugehen, denn er versprach, grundlegende neuroanatomische Erkenntnisse zu beleuchten.
Lucie Salwiczek [3] konnte experimentell verifizieren, dass von Kanarienvögeln aufgezogene Spatzen nicht nur andere Laute, sondern auch andere Lautfolgen erzeugen als von Spatzen aufgezogene Spatzen. Unter den bei Kanarien-Pflegeeltern aufgewachsenen Spatzen erlernten und reproduzierten einige sogar fast getreu den Kanarien-Triller; und nur diese hatten ein größeres, dem Gesang zugeordnetes Vorderhirn-Areal (HVc). Hormone allein, die bei verschiedenen Singvogelarten nachweislich einen Einfluss auf die Gesangsfähigkeiten haben, hoben beim Sperling die Komplexität des Gesangs nicht.

Die Forscherin verwendete ferner einen integrativen Forschungsansatz und zeigt einen wunden Punkt in der heutigen Forschungslandschaft auf: Immer mehr Forschungsbereiche verselbstständigen sich und vernachlässigen Nachbarbereiche, die sich mit anderen Teilen des Gesamtorganismus beschäftigen. Sie beeinflussen sich zwar im Individuum gegenseitig, unterliegen aber gegebenenfalls unterschiedlichen Selektionsdrücken.

Zum Beispiel ziehen Kanarienvögel ihre Jungen mit eingeweichter Körnernahrung auf, während Sperlinge in den ersten beiden Lebenswochen reine Insektenfresser sind. Also musste vom Schlüpfen an durch Zufüttern dafür gesorgt werden, dass keine Wachstums-Verzerrungen auftraten, die später die Gesangsproduktion hätten beeinflussen können. Ferner schließt man gewöhnlich von dem, was wir hören, auf das, was der Sender gespeichert hat. Unterschlagen werden dabei beispielsweise neuronale und morphologische Systeme, die als Filter und Modifikatoren wirken können. Inzwischen konnte gezeigt werden, dass die von Vögeln produzierten Laute nicht allein auf ihr Lautgebungsorgan, die Syrinx, zurückgehen, sondern dass auch der Schnabel wesentlichen Anteil an der Frequenzmodulation der Laute hat. Und die Körpergröße beeinflusst die Atmung, damit das Zeitgefüge im Singen, eventuell auch die strukturelle Anordnung der Elemente. Unterschiede in den Gesängen zwischen Kanarientutoren und Spatzenschülern wären bis dato allein neuromotorischen Defiziten, sprich dem Spatzengehirn zugeordnet worden. Der Spatz ist größer und schwerer als der Kanarienvogel - tatsächlich scheinen eher Limitierungen durch die ausführenden Organe für die Differenzen in den Gesängen verantwortlich zu sein. Was die Sperlinge "im Kopf" haben, können wir also mitnichten allein aus den produzierten Lauten rekonstruieren.
Die Fähigkeit der Hausspatzen, Gesänge anderer Arten zu lernen und zu reproduzieren, selbst wenn diese komplexer sind als der arteigene Gesang, machen den Haussperling zu einem wichtigen Modellvogel. Seine plastische Lernfähigkeit ermöglicht es unter anderem, fremde Laute als Sonden zu verwenden, um die Bedeutung einzelner Elemente zu bestimmen. Das Erlernen fremder Laute und fremder Syntax macht es möglich, die zugrundeliegenden neuronalen Mechanismen genauer zu analysieren, unter Berücksichtigung der Bedeutung von Schnabel und Syrinx. Damit erhält man auch erstmals eine Gelegenheit, beim Vergleich "spätzisch- und kanarisch"-singender Sperlinge den energetischen Aufwand beim Singen gegebener Gesangsstrukturen zu bestimmen.

Künftig werden die Wissenschaftler in Seewiesen nach konvergent entstandenen kognitiven Leistungen bei Mensch und Tier suchen, um unter anderem auf die Selektionsdrücke zurückschließen zu können, durch welche - wie Kant es formulierte - "der Mensch sich aus der Tierheit erst herausarbeiten müsse" (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht; erschienen 1798).

Literatur

[1] Wickler, W. and L. H. Salwiczek: Foreign-language phenomena in birds: Means to understand the evolution of high level acoustic communication. In: Europäische Sprachenpolitik / International Language Policy. (Ed.) R. Ahrens. Universitäts-Verlag Winter, Heidelberg 2003, 395-412.

[2] Salwiczek, L. H. and W. Wickler: Birdsong: An evolutionary parallel to human language. Semiotika, in press (2004).

[3] Salwiczek, L. H.: Immanuel Kant's Sparrow - An integrative approach to canary-like singing house sparrows (Passer domesticus). Dissertation der Fakultät Biologie der Ludwig-Maximilian-Universität München (2004).

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