Stabilität, Plastizität und Spezifität im erwachsenen Gehirn

Forschungsbericht (importiert) 2016 - Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz

Autoren
Bonhoeffer, Tobias
Abteilungen
Abteilung Synapsen - Schaltkreise - Plastizität
DOI
Zusammenfassung

Das Gehirn berechnet aus den Sinnesinformationen ein Bild der Umwelt. Verändern sich die Eingangssignale, zum Beispiel durch eine Verletzung, kann sich das Gehirn anpassen. Im Idealfall kehrt es zu seinem ursprünglichen Aktivitätsmuster zurück, wenn die Störung behoben ist. Neue Ergebnisse  zeigen nun, dass Nervenzellen dabei wieder zu ihrem Ausgangszustand zurückfinden und dass diese Plastizität in verschiedenen Gehirnbereichen stattfinden kann. Zudem konnte erstmals gezeigt werden, dass neue Nervenzellen auch im erwachsenen Gehirn funktionell integriert werden.

Lernen verändert Schaltkreise im Gehirn

Alles, was wir über unsere Umwelt wissen, basiert auf Berechnungen unseres Gehirns. Während das kindliche Gehirn die Regeln der Umwelt erst noch erlernen muss, weiß das erwachsene Gehirn, was es erwarten kann, und verarbeitet Umweltreize weitgehend gleichbleibend. Doch auch das erwachsene Gehirn ist zeitlebens in der Lage, auf Veränderungen zu reagieren, neue Erinnerungen zu bilden und zu lernen – es ist "plastisch". Forschungsergebnisse der letzten Jahre haben gezeigt, dass Veränderungen in den Verbindungen zwischen den einzelnen Nervenzellen die Grundlage dieser Plastizität sind. Jede der rund 100 Milliarden Nervenzellen in unserem Gehirn ist über tausende Kontaktstellen, den Synapsen, mit ihren Nachbarzellen verbunden. Wissenschaftler gehen davon aus, dass der flexible Auf-, Ab- und Umbau dieser Synapsen es ermöglicht, Informationen zu verarbeiten und zu speichern.

Das Max-Planck-Team hat in der Vergangenheit mehrfach gezeigt, dass Nervenzellen neue Verbindungen miteinander eingehen, wenn neue Informationen verarbeitet werden müssen [1, 2]. Lernen scheint also einherzugehen mit einer "Neuverdrahtung" vorhandener Nervenzellen: so bilden sich etwa im Gehirn von Mäusen, die lernen, neue Synapsen; die neue Information wird gespeichert. Interessanterweise bleiben zumindest einige dieser neuen Synapsen bestehen, auch wenn das Tier das vorher Gelernte wieder vergisst. Werden diese Tiere jedoch derselben experimentellen Lernsituation ein zweites Mal ausgesetzt, so lernen die Mäuse schneller als zuvor [3]. Der Grund hierfür sind vermutlich die "übrig gebliebenen" Synapsen, so dass bei einem Wiedererlernen weniger neue Nervenzellverbindungen ausgebildet werden müssen [2]. Dies zeigt, dass einmal gebildete Synapsen in einer ähnlichen Situation ein zweites Mal benutzt werden können – ein Phänomen, das möglicherweise erklärt, warum einmal Gelerntes schnell wieder reaktiviert werden kann. Das zeigt auch die menschliche Erfahrung: Ist das Fahrradfahren einmal erlernt, klappt es selbst nach einer jahrelangen Pause bereits nach kurzer Übung wieder.

Ein dauerhaft plastisches Gehirn, das konstant Neues lernt und neue Verbindungen auf- und abbaut, ist jedoch nicht notwendigerweise nur vorteilhaft. Nur eine gewisse Konstanz und Dauerhaftigkeit neuronaler Antworten ermöglicht ein reproduzierbares Verhalten. Nicht zuletzt deswegen gibt es in der Hirnentwicklung der meisten Säugetiere eine sogenannte "kritische Phase" in der frühen Entwicklung, während der  das Gehirn besonders plastisch ist. Im erwachsenen Gehirn ist die Plastizität dagegen wesentlich geringer. Nichtsdestotrotz verändern sich auch im erwachsenen Gehirn bei jedem Lernvorgang die Schaltkreise. Wissenschaftler fragen sich daher schon seit längerem, wie das Gehirn seine Verbindungen kontinuierlich verändern kann, ohne die bestehende, stabile Berechnung der Umwelt zu gefährden.

Dieser Frage nach dem Zusammenspiel von Plastizität und Stabilität sind die Forscher in den letzten Jahren auf den Grund gegangen [4]. Dabei untersuchten sie, wie stabil die Verarbeitung von Sinneseindrücken im visuellen Cortex der Maus ist. Seit langem ist bekannt, dass bei dem zeitweisen Verschluss eines Auges der für dieses Auge zuständige Gehirnbereich zunehmend nur noch Signale vom offenen Auge verarbeitet: Das Gehirn passt sich an die neue Umweltsituation an und ändert seine Verdrahtung. Im ungünstigsten Fall ist diese Veränderung jedoch so stark, dass ein schwächeres Auge vom Gehirn funktionell "abgehängt" werden kann. Um dies zu vermeiden, bekommen schielende Kinder heute oft ein Augenpflaster. Dabei bleibt trotz jahrzehntelanger Forschung unklar, welches die zugrunde liegenden Vorgänge sind. Es ist bekannt, dass die Gesamtpopulation der Nervenzellen ihr Antwortverhalten anpasst. Was passiert jedoch genau, auf der Ebene der einzelnen Nervenzellen? Verändert sich die Verschaltung von allen, oder nur von wenigen Zellen? Findet die Einzelzelle, nachdem der Augenverschluss wieder beendet wurde, zu ihrem Ausgangszustand zurück, oder werden die Karten neu gemischt?

Rückkehr zu alten Mustern

Neue Methoden ermöglichen es nun, genau diese Fragen zu beantworten. Mit Zwei-Photonen-Mikroskopen und sogenannten "genetischen Farbstoffen" ist es seit kurzem möglich, die Aktivitätssignale einzelner Nervenzellen über lange Zeiträume hinweg zu beobachten. Mit diesen Methoden konnten die Max- Planck-Forscher nun erstmals zeigen, was genau im Gehirn bei derartigen plastischen Veränderungen passiert  (Abb. 1, [4]). Durch das Mikroskop konnten die Wissenschaftler beobachten, dass nach einem Augenverschluss zwei Drittel der Nervenzellen Signale aus dem anderen, offenen Auge übernehmen. Das Besondere dabei: die Zellen kehrten wieder zu ihrer Ursprungsaktivität zurück, sobald sie wieder Informationen von "ihrem" Auge erhielten. Auch bei Wiederholung des Experiments veränderten sich immer genau dieselben Zellen. Aufgrund der globalen Veränderungen in den für die beiden Augen zuständigen Hirnbereichen hatten die Neurobiologen ursprünglich vermutet, dass nicht die einzelne Zelle, sondern die Zellpopulation als Ganzes zum Ausgangszustand zurückfindet. Das Gegenteil war jedoch der Fall: Es schien fast, als könnten sich die einzelnen Zellen „daran erinnern“, welche Verbindungen sie vor dem Augenverschluss hatten, um genau diese dann wieder zu rekonstruieren.

Die Ergebnisse legen nahe, dass Nervenzellen, die auf Veränderungen reagieren, einzelne besonders stabile Verbindungen haben. Solche Verbindungen würden dafür sorgen, dass die Nervenzellen nach plastischen Veränderungen ihren ursprünglichen Zustand wiederfinden. Das erwachsene Gehirn könnte sich so an veränderte Umweltbedingungen anpassen, ohne dass sich die "Grundverdrahtung" komplett verändert.

Neue Nervenzellen fürs Gehirn

Noch vor wenigen Jahren galt es als Tatsache, dass im erwachsenen Gehirn praktisch keine neuen Nervenzellen entstehen können. Arbeiten der letzten Jahre haben dieses Dogma in Frage gestellt und gezeigt, dass neue Nervenzellen im Gehirn gebildet und in neuronale Schaltkreise integriert werden können. Es blieb jedoch unbekannt, wie präzise diese Integration ist, überhaupt neue Verbindungen entstehen, und ob diese Verbindungen zufällig oder genau und spezifisch sind. Um diesen Fragen nachzugehen, transplantierten die Neurobiologen zusammen mit Kollegen vom Münchner Helmholtz Zentrum und der Ludwig-Maximilians-Universität embryonale Nervenzellen in die Sehhirnrinde erwachsener Mäuse. Ziel war es zu untersuchen, ob diese neuen, "naiven" Nervenzellen spezifische Synapsen mit den umgebenden Zellen bilden, oder ob die Verbindungen eher zufällig erfolgen [5].

Erstaunlicherweise verknüpften sich die Pyramidenzellen, die aus den transplantierten Jungzellen entstanden waren, mit exakt den richtigen Nervenzellen im gesamten Netzwerk des Gehirns. Obwohl diese neuen Zellen alle Nervenverbindungen von Grund auf neu schließen mussten, erhielten und verarbeiteten sie am Ende die gleichen Informationen wie die anderen Zellen des Nervennetzwerks. Die transplantierten embryonalen Nervenzellen knüpften somit hochspezifische neue Verbindungen, wurden zu gleichwertigen Mitgliedern eines bestehenden Nervennetzwerks und konnten die Aufgaben ihrer neuen Position vollständig übernehmen [5]. Dies ist nicht nur wissenschaftlich eine erstaunliche Erkenntnis, sondern hat auch praktisch-klinische Bedeutung: Entgegen des vorherrschenden Dogmas zeigen die Ergebnisse, dass zumindest im Prinzip geschädigte Gehirnstrukturen repariert werden können. Voraussetzung dafür wäre das Erzeugen neuer Nervenzellen des richtigen Typs und ihre erfolgreiche Transplantation in das geschädigte Gewebe. Dem stehen derzeit noch wichtige grundsätzliche Probleme im Weg, wie das Herstellen der neuen Nervenzellen oder Abstoßungsreaktionen. In Anbetracht der sich rapide entwickelnden Technologien von induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS-Zellen) könnten solche Therapien jedoch in nicht allzu ferner Zukunft Realität werden.

Ein unerwarteter Ort des Lernens

Eine Grundvoraussetzung für alle bisher genannten Experimente war die Entwicklung von Techniken, mit denen die Aktivität einzelner Zellen über lange Zeiträume verfolgt werden kann. Um solche Beobachtungen zu ermöglichen, nutzten die Forscher die Tatsache, dass die elektrische Aktivität in Nervenzellen mit einer Veränderung ihres chemischen Milieus einhergeht. Klassische Methoden machen diese chemische Änderung mit Hilfe von Elektroden sichtbar, die in die Nähe von Zellkörpern platziert werden. In den neuen Untersuchungen kombinierten die Neurobiologen jedoch moderne Mikroskopieverfahren mit neuen, von den Zellen selbst produzierten Farbstoffen [6], und konnten so die Aktivität selbst mikroskopisch kleiner Nervenenden über Monate hinweg nachvollziehen. So ließ sich erstmals verfolgen, wie sich der zeitweilige Verschluss eines Auges auf tief im Gehirn liegende Strukturen auswirkt.

Seit Jahrzehnten ging ein Großteil der wissenschaftlichen Gemeinschaft davon aus, dass Plastizität im erwachsenen visuellen System auf die Großhirnrinde beschränkt ist. Tiefer im Gehirn liegende Strukturen wie der Thalamus, die erste Verschaltungsebene nach den Sinnesorganen, sollten hierbei keine Rolle spielen. Die Annahme war, dass visuelle Informationen strikt für jedes Auge getrennt vom Thalamus direkt an die Sehrinde des Großhirns weitergeleitet werden. Dies sollte ohne weitere Berechnungen oder gar erfahrungsabhängige Veränderungen geschehen. Mit Hilfe der neuen bildgebenden Verfahren konnten die Wissenschaftler nun jedoch – ähnlich wie im Fall der neu entstehenden Neuronen – die geltende Meinung revidieren [7].

Die Zellkörper der Nervenzellen des Thalamus liegen zu tief im Gehirn, um sie mit optischen Methoden zu beobachten. Die kleinen, reizweiterleitenden Strukturen dieser Zellen, ihre Axone, ziehen jedoch bis in die Sehhirnrinde, wo sie mit dem Zwei-Photonen-Mikroskop beobachtet werden können. Indem die Forscher die Axone sozusagen als "Antennen" für die Aktivität der thalamischen Zellen nutzten, konnten sie erstmals verfolgen, was in dieser tiefen Hirnstruktur während des Lernens passiert (Abb. 2). Die Untersuchungen zeigten, dass einige klassische Grundannahmen nicht zutreffen. Entgegen bestehender Theorien zeigte sich, dass bereits im Thalamus ein Teil der Zellen Signale beider Augen miteinander verrechnet. Noch unerwarteter war jedoch die Tatsache, dass ein zeitweiliger Verschluss eines Auges sehr wohl zu ausgeprägten Veränderungen in der Stärke der Antwort auf visuelle Stimulation der beiden Augen führte. Im kompletten Widerspruch zum allgemein angenommenen Konzept des Thalamus als stabile "Relaisstation" fanden die Wissenschaftler, dass einzelne Zellen plötzlich anfingen, auf beide Augen zu reagieren – oder sogar ihre Ansprechbarkeit komplett auf das andere Auge verlagerten.

Ausblick

Die beschriebenen Experimente demonstrieren, wie sehr wissenschaftlicher Fortschritt durch neue Methoden beeinflusst wird. Neue Technologien schaffen neue Möglichkeiten – hier, die Aktivität von Nervenzellen mit Hilfe von genetisch kodierten Farbstoffen über lange Zeit zu messen. So war es den Neurobiologen möglich, den Widerstreit zwischen Plastizität und Stabilität, die Integration von neuen Nervenzellen und die Funktion des Thalamus im wahrsten Sinne des Wortes neu zu beleuchten. Dabei wurden einige als sicher geglaubte Erkenntnisse über Bord geworfen, während die neuen Daten das Verständnis der zugrundeliegenden Prozesse insgesamt erheblich erweitern. Heute verstehen Wissenschaftler nicht nur aus Sicht der Grundlagenforschung wesentlich besser, wie Plastizität im erwachsenen Gehirn funktioniert. Sie wissen auch, dass Transplantationsstrategien mit neuen Nervenzellen wirklich erfolgreich sein könnten, um eines Tages bestimmte Hirnschädigungen zu heilen.

Literaturhinweise

1.
Engert, F.; Bonhoeffer, T.
Dendritic spine changes associated with hippocampal long-term synaptic plasticity
Nature 399, 66–70 (1999)
2.
Hofer, S. B.; Mrsic-Flogel, T. D.; Bonhoeffer, T.; Hübener, M.
Experience leaves a lasting structural trace in cortical circuits
Nature 457, 313–317 (2009)
3.
Hofer, S. B.; Mrsic-Flogel, T. D.; Bonhoeffer, T.; Hübener, M.
Prior experience enhances plasticity in adult visual cortex
Nature Neuroscience 9, 127–32 (2006)
4.
Rose, T.; Jaepel, J.; Hübener, M.; Bonhoeffer, T.
Cell-specific restoration of stimulus preference after monocular deprivation in the visual cortex
Science 352, 1319–1322 (2016)
5.
Falkner, S.; Grade,S.; Dimou, L.; Conzelmann,K.K.; Bonhoeffer,T.; Götz, M.; Hübener, M.
Transplanted embryonic neurons integrate into adult neocortical circuits
Nature 539, 248–253 (2016)
6.
Rose, T.; Goltstein, P. M.; Portugues, R.; Griesbeck, O.
Putting a finishing touch on GECIs
Frontiers in Molecular Neuroscience 7, 88 (2014)
7.
Jäpel, J.; Hübener, M.; Bonhoeffer, T.; Rose, T.
Lateral geniculate neurons show robust ocular dominance plasticity
submitted (2016)
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