Evolution der Lebenslaufvielfalt von Vögeln

Forschungsbericht (importiert) 2009 - Max-Planck-Institut für Ornithologie

Autoren
Dale, James
Abteilungen
Verhaltensökologie und evolutionäre Genetik (Kempenaers) (Prof. Dr. Bart Kempenaers)
MPI für Ornithologie, Seewiesen
Zusammenfassung
Die Klasse der Vögel besteht aus circa 9.800 Arten, die unterschiedlichste Lebenslaufstrategien haben. Darunter versteht man alle Verhaltensweisen eines Individuums, die als Anpassung an seine ökologischen und sozialen Lebensumstände entstanden sind, um einen möglichst hohen Fortpflanzungserfolg zu erreichen. Eine Forschergruppe am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen untersucht diese Vielfalt mit dem Ziel zu verstehen, welche Prinzipien die evolutionären und geographischen Muster von Lebenslaufmerkmalen – wie zum Beispiel Körpergrößenunterschiede oder Gelegegrößen – steuern.

Der Begriff Biodiversität wird normalerweise entweder im Sinne von Artenvielfalt benutzt [1] oder im Sinne von genetischer Diversität innerhalb einer Art [2]. Eine kritische und unterschätzte Komponente der Biodiversität ist jedoch die Vielfalt an Lebenslaufstrategien. Zum Beispiel sind das Alter, in dem die Geschlechtsreife erreicht wird, oder die Größe des Geleges entscheidende Merkmale für den Fortpflanzungserfolg und damit die Fitness eines Individuums. Die Vögel sind mit ungefähr 9.800 Arten eine sehr artenreiche Wirbeltierklasse und bieten sich für die Erforschung von Lebenslaufmerkmalen im globalen Maßstab an. Dies zum einen, weil Vögel eine außergewöhnliche Vielfalt zeigen bezüglich Körpergröße, Ernährungsweisen, Lebensdauer, Zugverhalten, Sozialverhalten, Sexualdimorphismus, Paarungsstrategien, elterlicher Brutfürsorge, Gefiederfärbung, Gesangs- und Brutverhalten. Zweitens gibt es große Datenmengen über die Naturgeschichte von Vögeln, ihre Morphologie, Demographie und geographische Verbreitung. Diese Daten sind über Jahrzehnte von einer Vielzahl engagierter Hobby- und wissenschaftlicher Ornithologen gesammelt worden. Und drittens dienen Vögel als Indikatoren für Umweltverschmutzung, da sie omnipräsent sind und häufig weit oben in der Nahrungskette stehen [3]. Vögel stellen das kostengünstigste System dar, um den globalen Rückgang der Artenvielfalt und die Effekte des Klimawandels auf Ökosysteme zu untersuchen und zu verstehen.

Um die Evolution der vielfältigen Lebensläufe von Vögeln nachzuvollziehen, hat eine Forschergruppe der Abteilung Verhaltensökologie und evolutionäre Genetik in Seewiesen umfangreiche Analysen durchgeführt. Diese basieren auf einer stetig wachsenden Datenbank digitalisierter Verbreitungskarten und verschiedener Lebenslaufmerkmale von bisher 9.813 Vogelarten. Dazu zählt das Körpergewicht von 8.434 Arten, der Sexualdimorphismus der Flügellänge von 5296 Arten, das elterliche Brutfürsorgeverhalten von 5.124 Arten und die Gelegegröße von 6.784 Arten. Anhand dieser Datenbank erforschen die Wissenschaftler in Seewiesen grundlegende Fragestellungen zur Artenvielfalt von Vögeln. Drei ihrer Studienergebnisse werden im Folgenden beschrieben:

1. Die Erklärung für die Rensch‘sche Regel zur sexuellen Größen-Allometrie ist gefunden

Standardisierter Flügellängen-Dimorphismus (log der Flügellänge bei Männchen - log der Flügellänge bei Weibchen) versus Größe der Männchen in Subfamilien mit unterschiedlichen Paarungssystemen. Polygynie (ein Männchen ist mit mehreren Weibchen verpaart) ist verbunden mit positiver Allometrie, Polyandrie (ein Weibchen ist mit mehreren Männchen verpaart) mit negativer Allometrie. Graue Punkte zeigen das Verhältnis von Flügeldimorphismus zu Körpergröße für alle Vögel, während farbige Punkte die untersuchten Subfamilien darstellen.

Rensch hat im Jahr 1950 als Erster beschrieben, dass in Gruppen verwandter Arten der Größenunterschied zwischen den Geschlechtern bei größeren Arten ausgeprägter ist als bei kleineren. Dies ist als „Rensch‘sche Regel“ bekannt. Trotz zahlreicher Studien blieb die zu Grunde liegende Ursache für diese Allometrie bislang unbekannt. Es gibt jedoch drei Kategorien von Hypothesen, um die sexuelle Größen-Allometrie zu erklären: 1) evolutionäre Zwänge, 2) natürliche Selektion, 3) sexuelle Selektion. James Dale und sein Team nutzten die globale Vogeldatenbank um zu testen, welche dieser drei Hypothesen die Renschsche Regel am besten erklärt [4]. Sie konnten zeigen, dass die Allometrie-Muster bei über 5.300 Vogelarten durch evolutionäre Veränderungen bei Weibchen gesteuert werden, mit denen eine gerichtete sexuelle Selektion bei den Männchen einhergeht. Denn erstens war die Stärke der sexuellen Selektion (abgeleitet aus dem Paarungssystem, zum Beispiel Monogamie oder Polygamie) der Faktor, der die Allometrie mit Abstand am besten voraussagen konnte. Zweitens verhält sich in Gruppen, in denen die sexuelle Selektion bei Weibchen stärker ist, die Allometrie genau entgegengesetzt zur Rensch‘schen Regel. Diese Ergebnisse liefern die erste klare Lösung zu dem lang bestehenden evolutionären Problem der Allometrie des Sexual-Dimorphismus (Abb. 1).

2. Globale Analyse der Gelegegröße von Vögeln

Weltweite Unterschiede der durchschnittlichen Gelegegrößen innerhalb von Gemeinschaften von Vogelarten.

Moreau (1944) und Lack (1947) haben erstmals beschrieben, dass die Gelegegröße von Vögeln vom Breitengrad abhängt: Arten, die weiter vom Äquator entfernt leben, legen deutlich mehr Eier [5; 6]. Die globale Datenbank der Gelegegröße von Vögeln (6.817 Vogelarten) lieferte in Kombination mit den digitalisierten Verbreitungsgebieten der Arten die umfassendste Darstellung der geographischen Variation der Gelegegröße von Vögeln, die bisher erstellt wurde (Abb. 2). Ricklefs behauptete noch im Jahr 2000, dass die Ursache für diese Variation eines der letzten ökologischen Geheimnisse ist, das noch zu bearbeiten ist [7]. Die globale Analyse deutet jedoch darauf hin, dass die Gelegegröße anhand der jahreszeitlichen Veränderung der Netto-Primär-Produktion einer Region sehr genau vorhergesagt werden kann. So ist zum Beispiel die Gelegegröße in der Sahelzone größer, als man es für diese subtropische Region vorhersagen würde. Dies erklären die Forscher dadurch, dass die Sahelzone starke jahreszeitliche Schwankungen im Hinblick auf die Produktivität aufweist.

3. Globale Unterschiede im aktuellen ornithologischen Wissensstand – Bezug zum Vogelschutz

Weltkarte des „Vogel-Wissens“: Globale Unterschiede im Wissensstand über Vogelarten in Prozent (zugrunde gelegt wurden die Parameter Sexualdimorphismus der Flügellänge, Gelegegröße, Brutfürsorge und Körpergewicht).

Die Menge an Informationen, die über eine Vogelart erhältlich ist, ist stark abhängig von der geographischen Verbreitung dieser Art. Die „Weltkarte des Vogel-Wissens“ in Abbildung 3 basiert darauf, ob Informationen über vier grundlegende Parameter pro Art vorhanden sind (für die eine ausführliche Literatur-Recherche durchgeführt wurde): Sexualdimorphismus der Flügellänge, Gelegegröße, Brutfürsorge und Körpergewicht. In der Karte sind die Regionen mit den größten Lücken des Wissens über Vogelarten deutlich zu erkennen. Es überrascht nicht, dass die westlichen Regionen Europas, Nordamerikas und Australasiens diejenigen Gebiete sind, über deren Vogelarten am meisten bekannt ist. Auch die afrikanische Vogel-Fauna ist sehr gut bekannt, dank einer langen Tradition von Vogelforschung auf dem ganzen Kontinent. Von großer Bedeutung ist das Ergebnis, dass äquatoriale Regionen mit der höchsten Artenvielfalt gleichzeitig die Regionen sind, über die ornithologisch am wenigsten bekannt ist. Diese Ergebnisse liefern einen kritischen empirischen Blick auf den Schutz der Artenvielfalt: Die Regionen, die am dringendsten geschützt werden müssten, sind am schlechtesten erforscht. Die Weltkarte hebt deutlich die Zielgebiete hervor, auf die sich die zukünftige Forschung zur Biologie der Vögel konzentrieren muss. Ähnliche Karten, die auf Forschungsaufwand basieren (das heißt Anzahl der veröffentlichten Studien über eine Art) oder auch auf genetischem Wissen (also ob eine genetische Information über eine Art bekannt ist), ergeben ein erstaunlich ähnliches Bild.

Wissenschaftliche Bedeutung des Projektes

Durch das Zusammenführen von sehr großen Datenmengen ist es den Forschern in Seewiesen gelungen, das Basismaterial für eine aussagekräftige Erforschung grundlegender ökologischer, evolutionärer und verhaltensbiologischer Fragen bereitzustellen. Dieses Datenmaterial wird als Archiv dienen für zukünftige Fragestellungen, über die man bis zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht nachgedacht hat.

Vor dem 21. Jahrhundert wäre ein Projekt, wie es hier beschrieben wurde, nicht denkbar gewesen. Dank dreier neuer Entwicklungen ist Forschung auf diese Art möglich. Zum einen hat der Fortschritt in der Computertechnologie mit der Entwicklung von geographischer Informationssoftware und der Unterstützung von Satellitentechnologie noch nie da gewesene Möglichkeiten eröffnet. Nur so konnten die Informationen über die Lebensläufe von Vögeln mit ihren natürlichen Lebensräumen und Klimazonen analysiert und zusammengeführt werden. Zum anderen haben molekulare Stammbaumanalysen von Vögeln eine Stufe erreicht, in der die Informationen vorhanden sind, die für genaue Vergleichsanalysen benötigt werden. Und drittens verdichten neue Veröffentlichungen sehr große Mengen an Informationen aus einem ganzen Jahrhundert engagierter naturgeschichtlicher Forschung an Vögeln. Dazu zählen zum Beispiel das „Handbuch der Vögel der Erde“, „Vögel der westlichen Paläarktis“, „Nordamerikanische Vögel“, „Vögel von Afrika“, und das „Handbuch der Australischen, Neuseeländischen und Antarktischen Vögel“.

Die Vögel sind mit bislang unbekannten Herausforderungen des Klimawandels und der Zerstörung ihrer Lebensräume konfrontiert. Zukünftige Forschung der hier vorgestellten Art und Weise wird ein grundsätzliches Verständnis von Ökologie, Evolution und Verhalten von Vögeln ermöglichen zu einem Zeitpunkt, an dem es am dringendsten benötigt wird.

Originalveröffentlichungen

1.
K. J. Gaston:
Global Patterns in biodiversity.
Nature 405, 220-227 (2000).
2.
D. W. Redding, A. O. Mooers:
Incorporating evolutionary measures into conservation proritization.
Conservation Biology 20, 1670-1678 (2006).
3.
R. W. Furness:
Birds as monitors of environmental change.
Chapman & Hall (1993).
4.
J. Dale, P. Dunn, J. Figuerola, T. Lislevand, T. Szeleky, L. Whittingham:
Sexual selection explains Rensch's rule of allometry for sexual size dimorphism.
Proceedings of the Royal Society of London, B 274, 2971-2979 (2007).
5.
R. Moreau:
Clutch size: a comparative study, with special reference to African birds.
Ibis 86, 286-347 (1944).
6.
D. Lack:
The significance of clutch size. Parts I and II.
Ibis 87, 302-352 (1947).
7.
R. E. Ricklefs:
Density dependence, evolutionary optimization, and the diversification of avian life histories.
Condor 102, 9-22 (2000).
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