Nervenzelle vereint theoretische Modelle zur Bewegungserkennung

T4-Zellen im Fliegenhirn errechnen Bewegungen komplizierter als gedacht

9. August 2016

Lichtsinneszellen reagieren, wie der Name schon sagt, auf Licht: Ist ein Bildpunkt hell, oder dunkel? Eine Bewegungsrichtung zeigt das nicht an. Diese Wahrnehmung entsteht erst im Gehirn durch vergleichende Verrechnungen benachbarter Lichtsignale. Wie diese Verrechnungen genau aussehen, darüber diskutieren Ingenieure, Physiker und Neurobiologen seit rund 50 Jahren. Nun vereinen Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie zwei bislang als Alternativen angesehene Konzepte – auf einer einzelnen Nervenzelle.

Fliegen sind meist schwer zu fangen. Kein Wunder, denn sie investieren rund zehn Prozent ihres Gehirns dafür, Bewegungen zu erkennen und zu verarbeiten. Für die Fliege nähert sich eine Hand wie in Zeitlupe, und die Ausweichbewegung ist längst eingeleitet, bevor ernsthaft Gefahr besteht. Wie das Fliegenhirn Bewegungen so schnell und präzise wahrnehmen und verarbeiten kann, daran forschen Wissenschaftler seit Jahrzehnten. „Nun rückt das Ziel langsam in Sicht, und wir sind nah dran, den neuronalen Schaltkreis des Bewegungssehens der Fliege vollständig zu entschlüsseln“, resümiert Alexander Borst, der mit seiner Abteilung am Max-Planck-Institut für Neurobiologie seit Langem an diesem Problem arbeitet. Jetzt haben die Wissenschaftler einen weiteren Schritt getan: Sie liefern experimentelle Daten, die zwei zuvor als alternative Theorien geltenden Ansätze vereinen.

Vor mehr als 50 Jahren wurden zwei rivalisierende theoretische Modelle entwickelt, die zu erklären versuchten, wie aus den Signalen benachbarter Bildpunkte Information über die Bewegungsrichtung errechnet werden kann. Die eine Theorie besagt, dass sich Lichtreize bei Bewegung entlang einer Richtung, der sogenannten Vorzugsrichtung, gegenseitig verstärken. Das andere Modell nimmt dagegen an, dass sich Lichtreize entlang der entgegengesetzten Richtung, der sogenannten Nullrichtung, gegenseitig unterdrücken. In beiden Fällen würde so ein schwach richtungsselektives Signal entstehen, welches anschließend noch nachbearbeitet und verstärkt werden müsste. „Interessanterweise haben wir aber gefunden, dass bereits die ersten Zellen, die auf Bewegungsreize reagieren - die sogenannten T4- und T5-Zellen - eine stark ausgeprägte Richtungsselektivität zeigen“, berichtet Alexander Borst.

Um diesen Widerspruch zu den beiden Modellen zu untersuchen, verfeinerten die Neurobiologen einen Versuchsaufbau, sodass sie nacheinander einzelne funktionelle Kolumnen des Fliegenhirns stimulieren und die Antworten der richtungsselektiven T4-Zellen aufnehmen konnten. Die Messungen und auch die entsprechenden Computersimulationen waren eindeutig: T4-Zellen verstärken die Eingangssignale, wenn diese entlang ihrer Vorzugsrichtung laufen, und unterdrücken sie, wenn sie entlang der Nullrichtung laufen. In den T4-Zellen des Fliegengehirns sind somit beide vorgeschlagenen Mechanismen realisiert: aus dem ‚Entweder-oder‘ wurde ein ‚Sowohl-als-auch‘. „Kein Wunder, dass diese Zellen so präzise zwischen den Bewegungsrichtungen unterscheiden können“, meint Jürgen Haag, der Erstautor der Studie. „Die Lösung der Natur ist komplizierter als die bislang vorgeschlagenen Modelle.“

Für die Computersimulationen dieses kombinierten Mechanismus benötigten die Martinsrieder Forscher drei verschiedene Eingangssignale zu den T4-Zellen. Interessanterweise erhalten T4-Zellen aber Eingangssignale von vier anderen Zellen. Dies lässt vermuten, dass der vierte, bisher noch ungeklärte Eingangskanal auf die T4-Zellen eine weitere Überraschung für die endgültige Berechnung bereithält. „Welche Informationen die T4-Zellen über diesen vierten Kanal erhalten, das wollen wir jetzt natürlich auch noch wissen“, beschreibt Alexander Borst den nächsten Schritt. „Dann haben wir erstmals gezeigt, wie in einem neuronalen Netzwerk aus einzelnen Bildpunkten die Information über die Bewegungsrichtung errechnet wird.“

SM/HR

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